(Rom) Libyens Staatschef Muammar al-Gaddafi predigte in Rom den Islam und sagte Europa eine islamische Zukunft voraus. Der italienische Journalist Luigi Geninazzi (Avvenire) führte dazu ein Interview mit dem international renommierten Islamexperten Pater Samir Khalil Samir. Der Jesuit ägyptischer Herkunft ist Dozent am Päpstlichen Orientinstitut in Rom, an der Katholischen Universität von Mailand und an der Universität von Beirut sowie Berater des Vatikans.
Die Frage: Gaddafi kommt nach Rom und sagt, daß der Islam früher oder später die Religion Europas sein wird. Wenn einer nach Tripolis ginge und die libyschen Bürger einladen würde, sich taufen zu lassen, was würde geschehen?
Es gäbe einen fürchterlichen Aufstand und der arme Prediger würde sofort verhaftet und wegen des Verbrechens des Proselytismus verurteilt. Libyen, wie jedes andere islamische Land, darf man nicht einmal betreten, wenn auch nur der Verdacht besteht, man wolle missionieren. Aber das, was den Christen verboten ist, ist die Pflicht der Moslems. Nicht nur für jeden einzelnen Gläubigen, sondern auch für die Staaten …
Die Frage: Manche halten den Auftritt Gaddafis für einen lächerlichen Blödsinn, andere für eine Provokation. Wie sehen Sie den Vorfall?
Erinnern wir zunächst daran, daß Gaddafi es gewohnt ist, solche Reden zu halten. Das letzte Mal tat er dies vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 23. September des vergangenen Jahres. Die islamischen Völker bewundern ihn, weil er auf der ganzen Welt den Islam predigt. Bei seinen römischen Treffen behauptete er, daß der Islam die letzte Offenbarungsreligion ist und daher das Judentum und das Christentum ersetzt habe. Kein Moslem kann ihm widersprechen.
Die Frage: Er fügte aber auch hinzu, daß Europa dazu bestimmt ist, islamisch zu werden. Ist das ernst zu nehmen?
Sagen wir so, es handelt sich keineswegs um eine aus der Luft gegriffene Vorhersage. Ich wäre vorsichtig, dies einfach als einen hingeworfenen Satz abzutun. Die Europäer haben eine sehr niedrige Geburtenrate, mit einem Schnitt von 1,38 Geburten. Das entspricht der Hälfte der Geburtenrate der Einwanderer aus Nicht-Eu-Staaten, und das sind zu einem großen Teil Moslems.
Die Demographen sagen voraus, daß bis 2050 ein Viertel der Bevölkerung Europas Moslems sein werden. Wenn der Trend sich nicht ändert, wird Europa in absehbarer Zeit mehrheitlich von Moslems bewohnt sein. Sollte die Türkei Mitglied der EU werden, würde dies bedeuten, daß ein erheblicher Teil der islamischen Welt, zumindest soziologisch betrachtet, Teil Europas wäre.
Und dann ist da noch der kulturelle Faktor: In Europa nimmt das praktizierte Christentum ab, während religiöse Gleichgültigkeit um sich greift. Das Christentum wird häufig belächelt oder behindert, während der Islam in Europa immer lautstarker und intoleranter auftritt.
Die Frage: Während wir einen schönen Beweis unserer Toleranz geliefert haben, indem wir Gaddafi in Rom seine Reden halten ließen …
So ist es und ich sage das ohne jede Ironie. Auch wenn ich mir erlaube hinzuzufügen, daß Rom nicht der Hyde Park ist, sondern das Zentrum der katholischen Christenheit. Deshalb bin ich der Meinung, daß wir uns den von Gaddafi ausgesprochenen Provokationen stellen werden müssen. Wir müssen aufwachen! Die Frage muß lauten: Welches Europa wollen wir? Hat Europa nur wirtschaftlich betrachtet Wert und Einfluß?
Die Frage: Vielleicht kann Gaddafi gerade deshalb in Rom über den Islam sagen, was er will: Libyen ist ein wichtiger Wirtschaftspartner, da ist es besser sich nicht querzulegen …
Ich verstehe solche Überlegungen. Wir müssen aber kohärent handeln. (…) Wenn er zu uns kommt, dann spricht er nicht nur von Geschäften, sondern tritt auch mit der Haltung eines islamischen Predigers auf. Jemand sollte ihm zu verstehen geben, daß Geschäfte nicht alles für uns sind.
(Avvenire/GN, Bild: Asianews)