Von heute an hat die interessierte Öffentlichkeit 44 Tage lang die Chance, das so genannte „Turiner Grabtuch“ zu sehen. Ob sie dabei auf das Leichentuch Jesu oder ein Tuch aus dem Mittelalter blicken, ist Gegenstand einer 700 Jahre währenden Kontroverse, die sich im Zuge neuer Prüfverfahren seit den 1970er Jahren zugespitzt hat und bislang ohne Ergebnis blieb. Beide Seiten haben stichhaltige Argumente. Die Frage „Echt oder gefälscht?“ läßt sich nicht eindeutig beantworten. Ganz unabhängig davon kann das Artefakt als echtes katholisches Heiligtum gelten, widerlegt es doch sehr eindrucksvoll drei gängige Vorurteile gegen die Kirche.
1. „Die Kirche ist ein Wirtschaftsunternehmen. Es geht ihr vornehmlich darum, den Menschen das Geld aus der Tasche zu ziehen.“ – Nein. Das Turiner Grabtuch darf kostenlos besichtigt werden. Bei den geschätzt 2 Millionen Besuchern verzichtet die Kirche auf Einnahmen im zweistelligen Millionenbereich. Darum geht es ihr auch gar nicht. Kardinal Severino Poletto, Erzbischof von Turin, äußerte im Vorfeld der Ausstellung den Wunsch, das diese „ein spirituelles und religiöses Ereignis“ und nicht „touristisch und kommerziell“ werde.
2. „Die Kirche hat mit den Nazis gemeinsame Sache gemacht.“ – Nein. Das Turiner Grabtuch wurde während der deutschen Besatzungszeit vor den Nazis, die es auf Geheiß Hitlers rauben sollten, in der Benediktiner-Abtei Montevergine versteckt, wie Pater Andrea Cardin berichtet.
3. „Die Kirche ist wissenschaftsfeindlich.“ – Nein. Das Turiner Grabtuch wurde der Wissenschaft vorbehaltlos zur Prüfung übergeben. Katholiken wissen, daß die Wahrheit des Glaubens und die Wahrheit des Wissens sich nicht widersprechen, weil es nur die eine Wahrheit in Gott gibt. Daher brauchen sie die Forschung nicht zu fürchten. Papst Johannes Paul II. sagte anläßlich der letzten Ausstellung des Turiner Grabtuchs (1988), es werfe Fragen zum historischen Jesus auf. Er fügte hinzu: „Da dies jedoch keine Sache des Glaubens ist, hat die Kirche keine spezielle Kompetenz, diese Fragen zu beantworten. Sie vertraut den Wissenschaftlern die Fortsetzung der Untersuchung an.“ Vertrauen verträgt sich schlecht mir Feindschaft. Und umgekehrt.
Selbstverständlich braucht es – da die antiklerikalen „Klassiker“ nicht verfangen – im Zusammenhang mit dem Turiner Grabtuch einen anderen Vorwurf, der auch nicht lange auf sich warten läßt. Er vermag die wohlfeilen Stammtischklischees in punkto Absurdität noch um einiges zu überbieten. Klingt unglaublich, ist aber so. Der Kirche wird tatsächlich vorgeworfen, durch die im Jahre 2002 erfolgten Konservierungsmaßnahmen künftige Untersuchungen erschweren zu wollen. Die Alternative – keine Konservierung – wäre fraglos der Verfall des Untersuchungsgegenstands. Dann wären zwar auch keine Untersuchungen mehr möglich, aber das Ding wenigstens aus der Welt. Daß Kirche versucht, zu erhalten, was erhaltenswert ist, scheint ja in einer Gesellschaft, die auf der „Anything goes“-Ethik des Relativismus fußt, ohnehin Fels des Anstoßens zu sein, obwohl selbige parallel dazu in gleichförmig-monastischem Turnus den perpetuierenden Verfall von Moralität und Sittlichkeit beklagt.
Konservierung und Verfall – das Turiner Grabtuch wird zur schönen Metapher. Wie gesagt: Ein katholisches Heiligtum. Echt.