(Brüssel/Vatikan) Der Wallone André-Mutien Léonard, 69 Jahre, seit 1991 Bischof von Namür, ist der neue Erzbischof von Brüssel und Primas von Belgien. Er nimmt den Platz von Kardinal Godfried Danneels sein, der die Kirche des Landes seit 1980 anführte. Die Nachricht wurde gestern vom Heiligen Stuhl bekanntgegeben. Gegenüber Journalisten lächelte Msgr. Léonard bereits in den Tagen zuvor, wenn sie danach fragten, ob er denn „konservativ“ sei. Die Qualifizierung „Konservativer“ wurde dem Bischof durch die Medien seines Landes verpaßt. Mitgeholfen hat dabei die französische Zeitschrift Golias, die sich bereits 2007 besorgt über Stimmen äußerte, daß Léonard nächster Erzbischof von Brüssel werden könnte. Zur Bestätigung der Bedenken führte das Blatt an, daß der neue Erzbischof „mit Enthusiasmus“ das Motu proprio Summorum Pontificum von Papst Benedikt XVI. begrüßt habe. Jene Bestimmung, mit der der Papst die „alte“ Liturgie wieder von den ihr angelegten Ketten befreite. Léonard habe zudem öffentlich Papst Pius XII. verteidigt gegen die Anschuldigung, er habe sich gegenüber dem Leid der Juden „unsensibel“ gezeigt. Der bisherige Bischof von Namür trat mehrfach für die „nicht verhandelbaren“ Werte ein und verteidigte sowohl das Naturrecht als auch den Schutz des Lebens.
Dem Vorbild von Golias folgten mehr oder weniger alle Zeitungen und Zeitschriften Belgiens und verbreiteten bereitwillig ein Klischee von Léonard als „traditionalistischem Bischof“. Ihrer Meinung nach bedeute die gestrige Ernennung eine „Wende“: vom progressiven Purpurträger Daneels zum konservativen Léonard. Entsprechend wird die Berufung als Signal des Vatikans verstanden, daß die bisherige Linie des belgischen Episkopats nicht die gewünschten Früchte gebracht habe und deshalb ein Wechsel notwendig sei.
Daß die Kirche in Belgien eine schwere Krise durchlebt, ist allgemein bekannt. Ebenso bekannt ist, daß die Wurzeln für die Krise weit zurück reichen. Die Priesterseminare sind weitgehend leer, die praktizierenden Gläubigen sind auf den Kern reduziert und viele Bischöfe des Landes genießen nicht mehr das Ansehen und den Einfluß auf das öffentliche Leben wie früher. Als Beispiel sei daran erinnert, daß der katholische König Albert II. erst vor einigen Monaten ohne jede Rücksicht auf die Kritik der Bischöfe ein Gesetz unterzeichnete, das Embryonen als „Material menschlicher Körper“ bezeichnet, die für medizinische Anwendungen verbraucht werden können.
Die Dramatik der Lage, in der sich die Kirche in Belgien befindet, wird auch in den päpstlichen Jahrbüchern deutlich. Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: In ganz Belgien gibt es derzeit nur 71 Priesteramtsanwärter. 35 davon studieren in der Diözese Namür, der bisherigen Diözese von Msgr. Léonard. Die Zahlen scheinen nicht unerheblich gewesen zu sein für die Bischofskongregation, von der die Ernennung vorbereitet wurde und die dem Papst einen Dreier-Vorschlag zu unterbreiten hatte, aber auch einen als geeignetsten Kandidaten zu empfehlen hatte. In der Kongregation scheint der Präfekt, Kardinal Giovanni Battista Re, zusehends an Bedeutung zu verlieren.
Dem scheidenden Kardinal Daneels wirft ein Teil der belgischen Kirche vor, nichts anderes getan zu haben, als die progressistische Linie seines Vorgängers, Kardinal Léon-Joseph Suenens, ohne neue Akzente fortgesetzt zu haben. Suenens kämpfte in seiner Zeit offen gegen die Enzyklika Humanae Vitae von Papst Paul VI. Man sagt aber auch, er habe das Abdriften vom katholischen Lehramt der einst prestigeträchtigen, katholischen Universität von Löwen nicht verhindert, wo schließlich namhafte Professoren für die Homo-„Ehe“ eintraten. Andere gestehen Daneels zu, daß es für niemanden ein leichtes Unterfangen sei, eine großteils „in der Welt aufgegangene“ Kirche zu leiten. Allerdings wurde die Anpassung an die Welt von manchen als neues Programm der Kirche betrachtet. Es gibt also durchaus Verantwortliche.
Die Berufung von Msgr. Léonard nahm immer konkretere Züge nach der Afrika-Reise des Papstes im März des Vorjahres an. Am 2. April 2009 kritisierte das belgische Parlament in einem außergewöhnlichen, unfreundlichen Akt eine von den Medien aus dem Zusammenhang gerissene Aussage Benedikts XVI. über Kondome. Damals war es der Bischof von Namür, der den Papst und die Position der Kirche zur künstlichen Empfängnisverhütung in der Öffentlichkeit verteidigte, weit mehr als alle anderen Bischöfe des Landes, von denen manche kaum zu hören waren.
Msgr. Léonard ist im Vatikan gut bekannt. Er ist Mitglied der internationalen Theologenkommission und war ein guter Freund des Erzbischofs von Paris, Kardinal Jean-Marie Lustiger, dessen Positionen er sich aber nie ganz zu eigen machte. Léonard wurde 1976 Professor für Philosophie an der Universität Löwen und 1978 dort Rektor des Saint-Paul-Seminars. In Löwen, wo die nach-konziliare Gärung in Europa besonders intensiv spürbar wurde, bemühte sich Msgr. Léonard frühzeitig, eine gemäßigte Lesart der kirchlichen Erneuerung zu präsentieren. Papst Johannes Paul II. berief ihn 1991 zum Bischof. Es fehlten nicht einige Protestierer bei der Bischofsweihe, wie es in jenen Jahren auch zwischen Wien und Chur in Mode war. Es war wiederum Papst Johannes Paul II., der ihm in der Fastenzeit 1999 die Predigten bei den Exerzitien für die römische Kurie anvertraute.
Der ebenfalls französische Osservatore Vaticano stimmt mit der Zeitschrift Golias, wenn auch aus gänzlich unterschiedlichen Positionen darin überein, daß die Ernennung des neuen Erzbischofs von Brüssel eine „Signal“ sei. Sie signalisiere, daß im fünften Jahr des Pontifikats von Benedikt XVI. die „Ratzingerianer“ zwar „noch nicht“ den Vatikan regieren, aber, daß die „Anti-Ratzingerianer“ ihn „nicht mehr“ beherrschen würden.
(Il Foglio /Osservatore Vaticano/ GN)