Der Osservatore Romano zog am 3. September 2008 mit einem ausführlichen Beitrag von Lucetta Scaraffia in Zweifel, daß das Ende der Hirnfunktionen genügt, um den Tod einer Person festzustellen. Damit löste er eine neue Diskussion über die Organentnahme aus „warmen Kadavern“ bei noch schlagendem Herz aus. Die Bedenken gegen den Hirntod teilen die Gelehrten der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften.
Die Historikerin und Journalistin Lucetta Scaraffia lehrt Zeitgeschichte an der römischen Universität La Sapienza, ist Mitglied des Nationalen Bioethikrats von Italien und schreibt für die Tageszeitungen Corriere della Sera, Avvenire, Il Riformista und Il Foglio.
Nachfolgend wird in deutscher Übersetzung des Diskussionsbeitrag von Prof. Roberto de Mattei, vom 8. September 2008, veröffentlicht, der die Position des Vatikans unterstützt.
Hirntod – Ein Beitrag von Roberto de Mattei
Die mediale Intoleranz gegen den Leitartikel von Lucetta Scaraffia „Die Todeszeichen“ im Osservatore Romano vom 3. September 2008, legt einige Überlegungen zum ebenso heiklen wie zentralen Thema des Hirntodes nahe.
Alle können der negativen Definition des Todes als „Ende des Lebens“ zustimmen. Was aber ist das Leben? Die Biologie bezeichnet einen Organismus als lebendig, der in sich selbst über ein zentrales und eigenständiges Prinzip verfügt, das die verschiedenen Körperteile koordiniert und seine Aktivitäten lenkt. Das organische Leben wird traditionell unterschieden in pflanzliches, tierisches und menschliches Leben. Das Leben der Pflanze, des Tieres und des Menschen, wenn auch unterschiedlicher Natur, setzt auf alle Fälle ein integriertes System voraus, das von einem aktiven und zentralen Prinzip angetrieben wird. Der Tod des lebenden Individuums ist auf biologischer Ebene der Augenblick, in dem das ihm eigene Lebensprinzip seine Funktionen beendet. Lassen wir die Tatsache beiseite, daß dieses Lebensprinzip, beim Menschen als Seele definiert, von geistiger und unveränderbarer Natur ist. Bleiben wir beim einhellig anerkannten Konzept, daß man einen Menschen als klinisch tot bezeichnen kann, wenn das ihn belebende Prinzip erloschen ist und der Organismus seiner Befehlszentrale beraubt, einen Prozeß der Auflösung beginnt, der zur schrittweisen Zersetzung des Körpers führt. Die Wissenschaft konnte bisher nicht beweisen, daß sich das Lebensprinzip des menschlichen Organismus in einem bestimmten Körperorgan befinden würde. Das einigende System des Körpers, als „Ganzes“ betrachtet, ist eben nicht in einem einzelnen Organ lokalisierbar, mag es noch so wichtig sein, wie etwa das Herz oder das Gehirn. Gehirn- oder Herzaktivitäten setzen das Leben voraus, doch befindet sich die eigentliche Ursache des Lebens nicht in ihnen. Die Aktivitäten dürfen nicht mit ihrem Prinzip verwechselt werden. Das Leben ist etwas nicht Greifbares, das die einzelnen, materiellen Organe des belebten Seins übersteigt, und das praktisch nicht meßbar ist und schon gar nicht erzeugt werden kann: Es ist ein Geheimnis der Natur, das die Wissenschaft zu Recht zu erforschen versucht, über das sie aber nicht Herr ist. Wenn die Wissenschaft beansprucht, Leben zu schaffen und zu manipulieren, macht sie sich selbst zur Philosophie und zur Religion und rutscht in den Szientismus ab. Der Sammelband Finis vitae. Ist der Hirntod noch Leben?, der in Zusammenarbeit mit dem Nationalen Forschungsrat und dem Verlag Rubbettino herausgegeben wurde und Beiträge von 18 international renommierten Wissenschaftlern enthält, belegt diese Grundsätze auf fast 500 Seiten.
Das neurologische Kriterium, das dem „kortikalen Tod“ (apallisches Syndrom) zugrundeliegt, kann nicht akzeptiert werden, weil ein Teil des Gehirns intakt und die zentrale Regulierungsfähigkeit der homöostatischen und vegetativen Funktionen aktiv bleibt. Das Kriterium, das dem Tod des Hirnstamms zugrundeliegt, kann nicht akzeptiert werden, da nicht nachgewiesen ist, daß die Einheiten oberhalb des Hirnstammes ihre Funktionsfähigkeit verlieren, wenn sie auf andere Weise stimuliert werden. Ebenso wenig kann der sogenannte „Hirntod“ akzeptiert werden, verstanden als dauerhaftes Ende aller Hirnfunktionen (Kleinhirn, Großhirn und Hirnstamm) mit der Folge eines irreversiblen Komas. Selbst Prof. Carlo Alberto De Fanti, der Neurologe, der die Maschinen abschalten will, an denen Eluana Englaro hängt, und Autor eines diesem Thema gewidmeten Buchs (Schwellen, Bollati Boringhieri, Turin 2007) gab zu, daß der Hirntod vielleicht als „Punkt ohne Rückkehr“ bezeichnet werden kann, aber „nicht mit dem Tod des Organismus als Ganzem (der erst nach dem Herzstillstand eintritt) zusammenfällt“ (L’Unità v. 03/09/2008). Es ist offensichtlich, daß der Point of no return – vorausgesetzt, daß er dies auch tatsächlich ist – eine schwerwiegende Invalidität bedeutet, er bedeutet aber nicht den Tod des Individuums.
Die Irreversibilität des Verlustes der Gehirnfunktionen, durch das „flache Elektroenzephalogramm“ festgestellt, beweist nicht den Tod des Individuums. Der völlige Verlust der Einheit des Organismus, verstanden als Fähigkeit, die Körperfunktionen einheitlich zu lenken und koordinieren, hängt weder vom Gehirn noch vom Herz ab. Die Feststellung, daß das Herz aufgehört hat zu schlagen und keine Atmung mehr erfolgt, bedeutet nicht, daß sich die Quelle des Lebens im Herz oder in der Lunge befindet. Wenn die rechtliche und medizinische Tradition, nicht nur des Westens, es immer für notwendig erachtet hat, daß für die Feststellung des Todes, geprüft wird, ob die Herztätigkeit erloschen ist, dann nur deshalb, weil die Erfahrung zeigt, daß wenige Stunden später die rigor mortis eintritt und damit die Zersetzung des Körpers beginnt. Diese tritt aber in keinem Fall nach dem Ende der Hirntätigkeit ein. Heute macht es die Wissenschaft möglich, daß Frauen mit „flachem Elektroenzephalogramm“ die Schwangerschaft zu Ende bringen und gesunden Kindern das Leben schenken. Ein Individuum im „irreversiblen Koma“ kann mit Unterstützung technischer Geräte am Leben erhalten werden. Ein Kadaver hingegen kann nie zu neuem Leben wiedererweckt werden, auch nicht wenn man es an noch so ausgefeilte Maschinen anschließt.
So gilt es noch einige Bemerkungen anzufügen. Der Direktor des Nationalen Transplantationszentrums Italiens, Alessandro Nenni Costa, erklärte, daß die Kriterien von Harvard „nie von der wissenschaftlichen Gemeinschaft in Frage gestellt worden sind“ (La Repubblica v. 03/09/2008). Selbst wenn dies wahr wäre, ist es aber nicht, ist es ein Leichtes darauf zu antworten, denn die Wissenschaft charakterisiert sich gerade durch die Fähigkeit, erworbene Erkenntnisse immer neu zur Diskussion zu stellen. Jeder Erkenntnistheoretiker weiß, daß es nicht das Ziel der Wissenschaft ist, absolute Sicherheiten zu schaffen, sondern Unsicherheiten zu reduzieren. Andere, wie Prof. Francesco D’Agostino, Ehrenvorsitzender des Nationalen Bioethikrats, behaupten, daß auf wissenschaftlicher Ebene die Position, die den Hirntod ablehnt, „eindeutig in der Minderheit ist“ (Il Giornale v. 03/09/2008). Prof. D’Agostino hat schöne Texte zur Verteidigung des Naturrechts verfaßt und kann daher nicht ignorieren, daß die Mehrheit als Kriterium unter dem politischen und sozialen Gesichtspunkt Gewicht haben mag, sicher aber nicht wenn es um philosophische oder wissenschaftliche Wahrheiten geht. In die Debatte eingreifend bemerkte eine „laizistische“ Gelehrte wie Luisella Battaglia, daß „sich der Wert der Argumente nicht an der Zahl der Personen mißt, die ihnen zustimmen“ und „daß die Tatsache, daß Zweifel von kleinen Minderheiten vorgebracht werden, keine Bedeutung für die Gültigkeit der vertretenen Thesen“ habe (Il Secolo XIX v. 04/09/2008). In moralischer Hinsicht verlangt bereits die bloße Existenz einer Lebensmöglichkeit, sich jeder potentiell tötenden Handlung zu enthalten. Wenn auch nur eine Wahrscheinlichkeit von zehn Prozent besteht, daß sich hinter einem Gebüsch ein Mensch befindet, ist es niemandem erlaubt, darauf zu schießen. In bioethischen Fragen bleibt der Grundsatz in dubio pro vita zentral.
Die Wahrheit ist, daß die Hirntoddefinition von der Harvard Medical School im Sommer 1968, nur wenige Monate nach der ersten Herztransplantation durch Christiaan Barnard (Dezember 1967) vorgebracht wurde, um Herztransplantationen ethisch zu rechtfertigen, die vorsehen, daß das Herz des „Spenders“ bei der Entnahme noch schlägt, anders ausgedrückt, daß der „Spender“ nach den Grundsätzen der klassischen Medizin noch lebte. Die Entnahme entsprach in diesem Fall einem Mord, wenn er auch für „eine gute Sache“ durchgeführt wurde. Die Wissenschaft stellte die Moral vor eine dramatische Frage: Ist es legitim, einen Kranken – mag er auch irreversibel geschädigt oder zum Tod verurteilt sein – zu töten, um ein anderes Menschenleben von „höherer Qualität“ zu retten?
An diesem Scheideweg, der eine grundsätzliche und intensive Diskussion zwischen entgegengesetzten moralischen Theorien verlangt hätte, übernahm eine ad hoc gebildete Gruppe an der Harvard Universität die Verantwortung für eine „Neudefinition“ des Todes, die den Transplantationen die Tür öffnen sollte, indem sie die lästige ethische Diskussion einfach umging. Es war nicht einmal notwendig, die Tötung eines lebenden Patienten zu legitimieren; es genügte, ihn für klinisch tot zu erklären. Nach dem Harvard-Bericht wurde die Definition des Todes in fast allen amerikanischen Bundesstaaten geändert. Später folgte auch der größte Teil der sogenannten entwickelten Staaten (in Italien erfolgte die „Wende“ mit dem Staatsgesetz 578 v. 29/12/1993, dessen Art. 1 feststellt: „Der Tod ist festzustellen mit dem irreversiblen Aufhören aller Hirnfunktionen“).
Die Debatte ist also nicht wissenschaftlicher, sondern ethischer Natur. Daß dem so ist, bestätigt auch der Senator des Partito Democratico, Ignazio Marino, der in einem Beitrag für La Repubblica v. 03/09/2008 den Artikel des Osservatore Romano „einen unverantwortlichen Akt“ nennt, „der riskiert, die Möglichkeit Dank der Organspenden hunderttausende Leben zu retten, zu gefährden“. Diese Worte unterstellen, daß die Ablehnung des Hirntodes zu einem Ende aller Organspenden führe, obwohl das ethische Problem den größten Teil der Transplantationen nicht betrifft, sondern sich nur auf die Entnahme lebenswichtiger Organe bezieht, die den Tod des „Spenders“ zur Folge haben, wie im Fall der Herzentnahme.
Das erklärt, weshalb Benedikt XVI., der immer Vorbehalte gegen die Hirntodthese hegte, sich seinerzeit zugunsten von Organspenden aussprach. Das wahre Problem ist, daß der tragische Preis, der zur Rettung dieser Leben zu zahlen ist, die Tötung anderer Leben ist. Man will das abendländische und christliche Prinzip, wonach es nicht richtig ist, das Böse zu tun, nicht einmal um ein höheres Gut zu erreichen, durch ein utilitaristisches ersetzen, demzufolge man das Böse tun kann, um ein Gut zu erreichen. Wenn einst anhand der traditionellen Todeszeichen festgestellt werden mußte, daß eine lebende Person nicht für tot gehalten wurde, verlangen heute die neuen Harvard-Kriterien, den Lebenden wie ein Kadaver zu behandeln, um ihn ausweiden zu können. All dem liegt dieselbe Verachtung des menschlichen Lebens zugrunde, die heute die Tür zur Euthanasie aufstoßen will, nachdem sie die Abtreibungsgesetze durchgesetzt hat.
(CR/JF)