von Josef Bordat
Gestern wurde die lang erwartete Sozialenzyklika Caritas in veritate der Öffentlichkeit vorgelegt. Papst Benedikt XVI. hat den Zeitpunkt der Veröffentlichung seines am 29. Juni unterzeichneten Lehrschreibens mit Bedacht gewählt: Heute beginnt im italienischen L’Aquila der G8-Gipfel. Die Staats- und Regierungschefs der mächtigsten Länder mit den seit Jahrzehnten stärksten Volkswirtschaften und – so sollte man daraus schließen – der größten Verantwortung für die globale Ökonomie treffen sich, um über Auswege aus der Finanzkrise zu beraten. Papst Benedikt sieht diesen Ausweg in einer sozialen Gerechtigkeit, die in der Liebe wurzelt, welche ihrerseits die Wahrheit zur Bedingung hat. Sie ist eine „Caritas in veritate“.
Benedikt betont – wohlwissend um die „Entstellungen und die Sinnentleerungen, denen die Liebe ausgesetzt war und ist“ (Nr. 2) – die Bedeutung der Wahrheit für die Liebe: „Nur in der Wahrheit erstrahlt die Liebe und kann glaubwürdig gelebt werden. Die Wahrheit ist ein Licht, das der Liebe Sinn und Wert verleiht. Es ist das Licht der Vernunft wie auch des Glaubens, durch das der Verstand zur natürlichen und übernatürlichen Wahrheit der Liebe gelangt: er erfaßt ihre Bedeutung als Hingabe, Annahme und Gemeinschaft. Ohne Wahrheit gleitet die Liebe in Sentimentalität ab“ (Nr. 3). Nur so kann die Liebe zum Leitmotiv von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft werden: „Liebe ist der Hauptweg der Soziallehre der Kirche. Jede von dieser Lehre beschriebene Verantwortung und Verpflichtung geht aus der Liebe hervor, die nach den Worten Jesu die Zusammenfassung des ganzen Gesetzes ist“ (Nr. 2). Diese Liebe führt notwendig zu einer Remoralisierung der Wirtschaft, die nicht das abstrakte Ergebnis von Marktoperationen ist, sondern die konkrete Gemeinschaft von Menschen: „Die Soziallehre der Kirche ist der Ansicht, daß wahrhaft menschliche Beziehungen in Freundschaft und Gemeinschaft, Solidarität und Gegenseitigkeit auch innerhalb der Wirtschaftstätigkeit und nicht nur außerhalb oder ‚nach’ dieser gelebt werden können. Der Bereich der Wirtschaft ist weder moralisch neutral noch von seinem Wesen her unmenschlich und antisozial. Er gehört zum Tun des Menschen und muß, gerade weil er menschlich ist, nach moralischen Gesichtspunkten strukturiert und institutionalisiert werden“ (Nr. 36).
Nur wenn Liebe und Wahrheit derart zusammenspielen kann das Hauptziel aller sozialen Betätigung des Menschen erreicht werden: Gerechtigkeit. In Anlehnung an die Enzyklika Populorum progressio Pauls VI. betont Benedikt die Bedeutung der Gerechtigkeit als „Mindestmaß der Liebe“ (Nr. 6) und stellt fest: „Die Gerechtigkeit ist der Liebe nicht nur in keiner Weise fremd, sie ist nicht nur kein alternativer oder paralleler Weg zur ihr: Die Gerechtigkeit ist untrennbar mit der Liebe verbunden, sie ist ein ihr innewohnendes Element […] Wer den anderen mit Nächstenliebe begegnet, ist vor allem gerecht zu ihnen“ (Nr. 6). Doch ist die Liebe freilich mehr: „Die Liebe geht über die Gerechtigkeit hinaus, denn lieben ist schenken, dem anderen von dem geben, was ‚mein’ ist“ (Nr. 6).
Wie wird der philosophische Kernbegriff „Gerechtigkeit“ von Benedikt ausgedeutet? Der Papst unterscheidet „ausgleichende“ und „verteilende“ bzw. „soziale“ Gerechtigkeit: „Der Markt unterliegt den Prinzipien der sogenannten ausgleichenden Gerechtigkeit, die die Beziehungen des Gebens und Empfangens zwischen gleichwertigen Subjekten regelt. Aber die Soziallehre der Kirche hat stets die Wichtigkeit der distributiven Gerechtigkeit und der sozialen Gerechtigkeit für die Marktwirtschaft selbst betont, nicht nur weil diese in das Netz eines größeren sozialen und politischen Umfelds eingebunden ist, sondern auch aufgrund des Beziehungsgeflechts, in dem sie abläuft. Denn wenn der Markt nur dem Prinzip der Gleichwertigkeit der getauschten Güter überlassen wird, ist er nicht in der Lage, für den sozialen Zusammenhalt zu sorgen, den er jedoch braucht, um gut zu funktionieren. Ohne solidarische und von gegenseitigem Vertrauen geprägte Handlungsweisen in seinem Inneren kann der Markt die ihm eigene wirtschaftliche Funktion nicht vollkommen erfüllen“ (Nr. 35). Das bedeutet für die Wirtschaft als ganzes, daß sie zuvörderst auf die Erlangung des Gemeinwohls gerichtet sein muß. Der darauf folgende Satz ist wohl in der Phase der Überarbeitung nach dem Bekanntwerden der Finanzkrise ergänzt worden: „Heute ist dieses Vertrauen verlorengegangen, und der Vertrauensverlust ist ein schwerer Verlust“ (Nr. 35)
Wie geht es angesichts dieser Vertrauenskrise nun weiter? Benedikt empfiehlt die Rückbesinnung auf die Quelle der Liebe und die Manifestation der Wahrheit: auf den Gott, der Mensch wird und damit ins Soziale der Welt eingreift, denn: „Ohne Gott weiß der Mensch nicht, wohin er gehen soll, und vermag nicht einmal zu begreifen, wer er ist. Angesichts der enormen Probleme der Entwicklung der Völker, die uns fast zur Mutlosigkeit und zum Aufgeben drängen, kommt uns das Wort des Herrn Jesus Christus zu Hilfe, der uns wissen läßt: ‚Getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen’ (Joh 15, 5) und uns ermutigt: ‚Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt’ (Mt 28, 20)“ (Nr. 78). Für die Kirche beinhaltet dies einen bleibenden Auftrag: „Angesichts der Arbeitsfülle, die zu bewältigen ist, werden wir im Glauben an die Gegenwart Gottes aufrechterhalten an der Seite derer, die sich in seinem Namen zusammentun und für die Gerechtigkeit arbeiten“ (Nr. 78).
Wie kann dieser Auftrag erfüllt werden? Ein Beispiel für eine Wirtschaftsorganisation in Liebe, die Gerechtigkeit und Gemeinwohl zum Ziel hat, ist die „Wirtschaft in Gemeinschaft“ der Fokolar-Bewegung, eine 1943 von der Italienerin Chiara Lubich gegründete katholische Gemeinschaft von Geistlichen und Laien. Die Idee für die „Wirtschaft in Gemeinschaft“ hatte Chiara Lubich 1991, als sie während eines Aufenthalts in Sà£o Paulo angesichts der dort unübersehbaren drastischen sozialen Gegensätze zu der Erkenntnis gelangte, daß private Solidarität mit den Armen – so wichtig diese ist – nicht ausreicht, um die Armut in den Elendsvierteln zu lindern, die sich in ihren Augen wie eine „Dornenkrone“ um Sà£o Paulo legen. So entwickelte sich der Gedanke, Produktionsbetriebe zu gründen, die in der Lage sind, Gewinne zu erwirtschaften und diese nicht zur Mehrung des Reichtums weniger, sondern zur Linderung der Armut vieler zu verwenden. Bereits über 700 Unternehmen und Initiativen produzieren weltweit nach den Prinzipien dieser alternativen Wirtschaftsweise, an der das besondere ist, daß ökonomische Effizienz und Gewinnorientierung, welche die Unternehmen, die dieses Prinzip anwenden, marktfähig halten, verbunden werden mit fairen Arbeitsbedingungen und einer gemeinwohnorientierten Gewinnverwendungspraxis, bei der jeweils ein Drittel des Überschusses ins Unternehmen zurückfließt, an Bedürftige ausgeschüttet bzw. für die Verbreitung des Konzepts (Seminare, Veranstaltungen) verwendet wird. Die Idee besteht also darin, marktwirtschaftlich kompetentes Handeln mit solidarischer Verantwortung zu verbinden.
Darüber hinaus gelten weitere ethische Standards, die den Umgang mit Kunden, Lieferanten, Konkurrenten und der „Öffentlichkeit“ ebenso betreffen wie das Betriebsklima, also die vertrauensbasierte Führung und faire Bezahlung der Mitarbeiter, sowie den Umweltschutz. Der allem übergeordnete Gedanke wird als „Kultur des Gebens, des Friedens und der Legalität“ bezeichnet, welche zu verwirklichen und zu verbreiten wichtigste Aufgabe der Unternehmen ist, die sich der „Wirtschaft in Gemeinschaft“ verbunden fühlen. Das durch diese alternative Handlungskultur gewonnene Vertrauen, die Offenheit und die Wertschätzung aller am Leistungserstellungsprozeß Beteiligten, können klassische Probleme der Prinzipal-Agenten-Ökonomik vermeiden helfen, so daß nicht trotz, sondern gerade wegen der Unternehmensphilosophie, die letztlich auf das Wohl der Gemeinschaft gerichtet ist, ein erfolgreiches Wirtschaften auch unter den marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die häufig als Grund für Lohndumping, Massenentlassungen und wenig nachhaltige Produktion unter Umgehung von Vorschriften angeführt wird.
Die Fokolar-Bewegung heißt offiziell „Opus Mariae“ („Werk Mariens“). Und mit Maria schließt Benedikt auch seine Enzyklika „Caritas in veritate“ ab: „Die Jungfrau Maria, die von Papst Paul VI. zur Mater Ecclesiae erklärt wurde und vom christlichen Volk als Speculum iustitiae und Regina pacis verehrt wird, beschütze und erhalte uns durch ihre himmlische Fürsprache die Kraft, die Hoffnung und die Freude, die wir brauchen, um uns weiterhin großzügig der Verpflichtung zu widmen, ‚die Entwicklung des ganzen Menschen und aller Menschen’ zu verwirklichen.“ (Nr. 79).
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Liebe in Wahrheit – Caritas in Veritate. Die Sozialenzyklika. Mit einer Einführung von Paul Joseph Kardinal Cordes.
Bestellung frei Haus zum Buchpreis: www.buchhandlung-falk.de/970
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