von Josef Bordat
Wir leben in einer turbulenten Zeit. Wenn es ein Schlagwort gibt, mit dem die politischen und wirtschaftlichen Sachverhalte unserer Zeit fast schon stereotyp beschrieben werden, dann ist es der Begriff „Globalisierung“. Was immer geschieht, wird mit diesem Begriff zu beschreiben, zu erklären und zu entschuldigen versucht. Dem inflationären Gebrauch zum Trotz scheint nicht ganz klar, was genau das Wesentliche der Globalisierung ist. Wer eine umfassende Definition sucht, muß sich mit Umschreibungen zufrieden geben, die substantiell alle nur bestimmte politische, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklungen unter den Begriff Globalisierung subsumieren und sonst den Bedeutungskern in der „Ausweitung, Verdichtung und Beschleunigung weltweiter Beziehungen“ (Osterhammel / Petersson) zu treffen versuchen, was recht schwammig bleibt, weil es an der inhaltlichen Präzisierung der Art dieser „Beziehungen“ mangelt, die dann zumeist aus fachspezifischer Perspektive partikulär gedeutet werden. Fest steht indes: Viele Aspekte des Sozialen sind heute zugleich global. Wirtschaft, Arbeit, Kultur, aber auch Fragen der Sicherheit und des Umweltschutzes lassen sich nicht mehr nationalstaatlich angehen. Zugleich gibt es ein Machtvakuum auf internationaler Ebene, das mit einer „Weltregierung“ zu füllen ist. In diesem Punkt sind sich viele Experten einig. Nun hat sich auch Papst Benedikt XVI. in seiner Enzyklika Caritas in veritate dazu geäußert.
Gehen wir zunächst noch einmal einen Schritt zurück. Wir müssen uns die Frage vorlegen, warum der Nationalstaat heute nicht mehr ausreicht. Staatlichkeit beinhaltet nach der Drei-Elemente-Lehre (Jellinek) ein Gewaltmonopol, das sich auf ein bestimmtes Gebiet und das dort ansässige Volk bezieht, d. h. „aus der Sicht des Völkerrechts ist der Staat ein Völkerrechtssubjekt, dessen konstituierende Merkmale das Staatsgebiet, das Staatsvolk und die (effektiv ausgeübte) Staatsgewalt bilden“ (Ipsen). Das alleinige „Recht zur Gewalt“ bezieht sich im modernen Staat aber nicht nur auf physische Gewaltanwendung (Polizei), sondern auch darauf, die Herstellung öffentlicher Güter (Bildung, Gesundheitswesen, Verkehr, etc.) zu gewährleisten, d. h. im Notfall auch zu erzwingen. Gerade dies scheint aber in Zeiten der Globalisierung fraglich.
Konnte bislang der Staat seine Angelegenheiten auf allen Ebenen weitgehend selbst regulieren, so ist dies im „globalen Zeitalter“ nicht mehr möglich, da sich die Formen unmittelbarer (Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus) und mittelbarer Gewaltausübung (Umweltpolitik, Regelungen im Finanz- und Wirtschaftssystem) internationalisiert haben. Dieser Souveränitätsverlust bedeutet zunächst nur eine Depotenzierung staatlicher Herrschaft, die sich in einem Paradigmenwechsel von der intervenierenden Subordination zur distanzierten, eingeschränkten Koordination zeigt. Insoweit wirkt der Staat nicht länger als Macht- sondern als sensibles, subsidiär tätiges Steuerungsinstrument. In einem solchen Staat ist nur noch „komplexes Regieren“ erfolgversprechend, politisches Handeln lediglich als bescheidenes, kluges Koordinieren gleichgeordneter Funktionssysteme sinnvoll. Macht hat dieser Staat letztlich nur noch eine sehr geringe. Was bedeutet das für die Ebene internationaler Beziehungen? Es stellt sich die Frage, ob dem Depotenzierungsprozeß auf der Ebene des Nationalstaats nicht die umgekehrte Entwicklung auf globaler Ebene entgegen stehen muß. Wenn der Nationalstaat von Macht auf Bescheidenheit, von Subordination auf Koordination umschaltet, braucht es dann nicht eine „Weltzentralmacht“, die umgekehrt ihre bescheidene bis zurückhaltende und fast ausschließlich koordinative Rolle aufgibt und ein Regime der Subordination initialisiert, das für die zentralen Staatsfunktionen, die ehedem der Nationalstaat besorgte, Institutionen und Mechanismen bereitstellt, welche diesen zumindest ergänzen, langfristig gar ganz ersetzen können?
In seiner Enzyklika Caritas in veritate spricht Papst Benedikt XVI. diesen Punkt unter Nr. 67 deutlich an:
„Gegenüber der unaufhaltsamen Zunahme weltweiter gegenseitiger Abhängigkeit wird gerade auch bei einer ebenso weltweit anzutreffenden Rezession stark die Dringlichkeit einer Reform sowohl der Organisation der Vereinten Nationen als auch der internationalen Wirtschafts- und Finanzgestaltung empfunden, damit dem Konzept einer Familie der Nationen reale und konkrete Form gegeben werden kann. Desgleichen wird als dinglich gesehen, innovative Formen zu finden, um das Prinzip der Schutzverantwortung anzuwenden und um auch den ärmeren Nationen eine wirksame Stimme in den gemeinschaftlichen Entscheidungen zuzuerkennen. Dies scheint gerade im Hinblick auf eine politische, rechtliche und wirtschaftliche Ordnung notwendig, die die internationale Zusammenarbeit auf die solidarische Entwicklung aller Völker hin fördert und ausrichtet. Um die Weltwirtschaft zu steuern, die von der Krise betroffenen Wirtschaften zu sanieren, einer Verschlimmerung der Krise und sich daraus ergebenden Ungleichgewichten vorzubeugen, um eine geeignete vollständige Abrüstung zu verwirklichen, die Sicherheit und den Frieden zu nähren, den Umweltschutz zu gewährleisten und die Migrationsströme zu regulieren, ist das Vorhandensein einer echten politischen Weltautorität, wie sie schon von meinem Vorgänger, dem seligen Papst Johannes XXIII., angesprochen wurde, dringend nötig. Eine solche Autorität muß sich dem Recht unterordnen, sich auf konsequente Weise an die Prinzipien der Subsidiarität und Solidarität halten, auf die Verwirklichung des Gemeinwohls hingeordnet sein, sich für die Verwirklichung einer echten ganzheitlichen menschlichen Entwicklung einsetzen, die sich von den Werten der Liebe in der Wahrheit inspirieren läßt. Darüber hinaus muß diese Autorität von allen anerkannt sein, über wirksame Macht verfügen, um für jeden Sicherheit, Wahrung der Gerechtigkeit und Achtung der Rechte zu gewährleisten. Offensichtlich muß sie die Befugnis besitzen, gegenüber den Parteien den eigenen Entscheidungen wie auch den in den verschiedenen internationalen Foren getroffenen abgestimmten Maßnahmen Beachtung zu verschaffen. In Ermangelung dessen würde nämlich das internationale Recht trotz der großen Fortschritte, die auf den verschiedenen Gebieten erzielt worden sind, Gefahr laufen, vom Kräftegleichgewicht der Stärkeren bestimmt zu werden. Die ganzheitliche Entwicklung der Völker und die internationale Zusammenarbeit erfordern, daß eine übergeordnete Stufe internationaler Ordnung von subsidiärer Art für die Steuerung der Globalisierung errichtet wird und daß eine der moralischen Ordnung entsprechende Sozialordnung sowie jene Verbindung zwischen moralischem und sozialem Bereich, zwischen Politik und wirtschaftlichem und zivilem Bereich, die schon in den Statuten der Vereinten Nationen dargelegt wurde, endlich verwirklicht werden.“
Was ist mit „Weltautorität“ gemeint? Eine Autorität, die von der Weltgemeinschaft („Familie der Nationen“) eingesetzt wird und eine Art „global governance“ (zu deutsch: „Weltregierung“) installiert. Wir haben so etwas ja schon, der Papst spricht es an: die Vereinten Nationen und ihrer Organisationen, für die sich Benedikt eine Aufwertung wünscht. In der Tat entwickeln wir uns in Richtung einer „Weltregierung“, wenn man jüngste Vorstöße im internationalen Recht betrachtet: die Gründung der Welthandelsorganisation (WTO, 1995; installierte die Regime GATS und TRIPS), die Einrichtung einer internationalen Strafgerichtsbarkeit (Römisches Statut, 1998; 2002 in Kraft getreten) sowie die Konzeption eines humanitären Interventionismus’ (The Responsibility To Protect, 2001; von der UN-Generalversammlung 2005 zur Leitlinie erhoben). [1]Weitere Texte des Autors zum Thema „Weltregierung“: Josef Bordat (2007): Interventionspflicht und Strafrecht in Zeiten globaler Gewalt. Zwei Aspekte einer Reform der Vereinten Nationen. In: … Continue reading
Entscheidend ist bei all dem der Wandel des Souveränitätsbegriffs: Wenn überhaupt noch von staatlicher Souveränität gesprochen werden kann, dann nur im Sinne von Verantwortung für die Menschen; Benedikt spricht vom „Prinzip der Schutzverantwortung“. Damit die Weltgemeinschaft auf möglichst stabiler Basis die faktische Übernahme der Souveränität berechtigter Weise leisten kann, muß ihre Repräsentanz in den Entscheidungsgremien gewährleistet sein. Hier weisen die Reformvorhaben, insbesondere die Vergrößerung des UN-Sicherheitsrats, in die richtige Richtung. Das macht die konkreten Entscheidungen in der Praxis nicht leichter, im Gegenteil: Die Interessendivergenz zwischen „the west“ und „the rest“ wird sich für die Entscheidungsfindung als hinderlich erweisen, doch wird nur eine globalisierte Konstitution des Sicherheitsrats für eine Legitimierung globalen „innenpolitischen“ Handelns sorgen können. Dazu gehört aber auch ein eigenes UN-Truppenkontingent, das direkt dem Sicherheitsrat unterstellt ist. Mit einer solchen „Weltpolizei“ wird das Problem der Rekrutierung der Einsatzkräfte umgangen, daß in vielen Fällen zu Verzögerungen und Ineffizienzen führt. Damit würde verhindert, daß die UN nach einer Interventionsentscheidung de facto auf den „good will“ ihrer Mitgliedsstaaten angewiesen bleiben. Man muß dazu wissen, daß die Vereinten Nationen unter einem ständigen Finanz- und Personalmangel leiden
Der Papst sagt völlig richtig, daß dieses „Weltregiment“ ein Instrument des Rechts sein muß und nicht (wie heutzutage) Spielball politischer und wirtschaftlicher Macht und ihrer Interessen (also des „Rechts des Stärkeren“) sein darf, aber dennoch „über wirksame Macht verfügen“ soll. Staatstheoretisch gehört dieser Widerspruch in die Kategorie des Utopischen, rechtsphilosophisch ist „Macht“ ohne Macht ein Ding der Unmöglichkeit. Nach Kant bedeuten „Recht“ und „Befugnis zu zwingen“ einerlei: „Das strikte Recht kann auch als die Möglichkeit eines mit jedermanns Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmenden durchgängigen wechselseitigen Zwanges vorgestellt werden.“ Eben diese „Möglichkeit“ fehlt im Völkerrecht de facto. Hegel hat dies deutlich markiert. Das Völkerrecht bleibt bei ihm ein Sollenskonzept, in der die Hilflosigkeit dem Rechtsbruch gegenüber spürbar, jedoch gleichsam unvermeidbar dem System der Staatenwelt immanent ist, denn es gebe, so Hegel, „keine Gewalt, welche gegen den Staat entscheidet, was an sich Recht ist, und die diese Entscheidung verwirklicht“.
Die „Entscheidung, was Recht ist“ mag es heute zwar geben (etwa in Gestalt der Menschenrechte oder den – wie Benedikt sagt – „Statuten der Vereinten Nationen“), doch die „Verwirklichung“ ist ein ungelöstes, vielleicht unlösbares Problem, zumindest wenn man nicht willkürliche Kasuistik, sondern die Verrechtlichung der internationalen Ordnung nach dem Vorbild innerstaatlichen Rechts vor Augen hat. Hier setzt nun der Papst an und verweist auf die Kraft der Moral. Recht ist nämlich nach katholischer Lesart zunächst die Verwirklichung einer sittlichen Ordnung. Hier wirkt Kants Trennung von Legalität und Moralität bitter nach, während sich die Naturrechtslehre des Thomas von Aquin, die den Gleichklang göttlicher und menschlicher Normen protegiert, als hochaktuell erweist und als Leitbild künftiger Rechtsentwicklung in den internationalen Beziehungen gelten kann. Denn – so Benedikt – diese kann nur im Sinne aller Menschen gelingen, wenn sie an einer Liebe orientiert, die der Wahrheit verpflichtet ist. Die „Macht“ der Liebe ist nämlich weit größer als alle Macht der Welt.
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Weitere Texte des Autors zum Thema „Weltregierung“:
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