von Giuseppe Nardi
Die Aktion für ein Abtreibungsmoratorium schreckt auf und fordert heilsam heraus. Seit Monaten findet in Italien eine intensive Abtreibungsdiskussion statt. Herausgefordert wurde sie vom prominenten Journalisten und Intellektuellen Giuliano Ferrara, einem ehemaligen Kommunisten, der die Forderung nach einem internationalen Abtreibungsmoratorium angestoßen hatte. Wie sich die Abtreibungslobbyisten der lästigen Herausforderung entziehen und der Öffentlichkeit weiterhin Sand in die Augen streuen möchten, zeigt exemplarisch der Fall einer Spätabtreibung, die am 11. Februar in Neapel durchgeführt wurde.
Vergangene Woche schienen die Wellen der Lebensschutzdebatte einen emotionalen Höhepunkt erreicht zu haben, der die Abtreibungsbefürworter mobilisierte. Am 12. Februar wurde die „Lawine“ mit großen Schlagzeilen in allen wichtigen Medien des Landes losgetreten. Eine „Horde von Polizisten“ habe, nach einem „anonymen denunziatorischen Anruf“ einen „Operationssaal gestürmt“, in dem eine dadurch „verschreckte“ Frau gerade eine Abtreibung eines „schwer mißgebildeten Fötus“ durchführen habe lassen. Die Frau sei in dieser schwierigen Situation einem „mehrstündigen, einschüchternden Verhör“ unterzogen worden, man schrieb von einer Art „Polizeiaggression“, von „Rambos in Uniform.“ So und ähnlich lauteten zwei Tagen lang die Meldungen bis hinauf zum Flaggschiff der italienischen Tageszeitungen, dem Corriere della Sera.
Der Aufschrei der politischen Linken und der alt-feministischen Verbände mit ihrem nach wie vor enormen medialen Anhang war unüberhörbar. Mit der „Gewalt von Polizei und Richtern“ soll Frauen das „Recht auf Abtreibung behindert“ und Italien wieder um Jahrzehnte in eine „dunkle Vergangenheit“ zurückgestoßen werden. In Wirklichkeit sei im neapolitanischen Krankenhaus alles völlig „legal“ und „legitim“ gewesen. Keine geringere, als die postkommunistische Gesundheitsministerin Livia Turco teilte umgehend mit: Legal war der Eingriff, weil an der Frau eine Spätabtreibung in der 21. Schwangerschaftswoche durchgeführt worden sei, legitim war er, weil eine „schwerwiegende Mißbildung“ vorhanden gewesen sei. Und mit geiferndem Ton machte sie auch den Schuldigen an diesem „untragbaren denunziatorischen Klima gegen Frauen“ aus, der kein geringerer als eben Ferrara mit seiner Kampagne für ein Abtreibungsmoratorium sei. Am nächsten Tag kam es in verschiedenen italienischen Städten zu Demonstrationen gegen die „polizeistaatlichen Einschüchterungsversuche“ und für das „Recht auf Abtreibung.“ Auf der Antoniusbasilika in Padua tauchten Schmierschriften für die Abtreibung und gegen Ferrara auf. Gesundheitsministerin Turco ging selbst für die römische Kundgebung auf die Straße, bei der eine Alt-Feministin einem Polizisten „stellvertretend“ ins Gesicht spuckte, als Ausdruck ihrer Verachtung über das Vorgehen der Polizei in Neapel. Einige hundert Frauen waren da und dort medienträchtig auf die Straßen gegangen. Die in die Jahre gekommenen und ergrauten Alt-68er gehörten zu den „üblichen Bekannten“.
Bis, ja bis Ferraras Tageszeitung Il Foglio aufdeckte, daß in Wirklichkeit sich alles ganz anders zugetragen hatte und sich hinter dem skandalträchtigen Aufschrei nur einmal mehr eine wahrheitsverdrehende Regie der Abtreibungslobbyisten verbarg.
Wiederum die Fakten der Reihe nach. In Neapel hatte man einer 39-jährigen Frau, die in der 21. Schwangerschaftswoche war, im Krankenhaus einen abtreibenden chemischen Cocktail verabreicht, um eine Frühgeburt einzuleiten. Man hatte ihr dabei erlaubt, den Operationssaal zu verlassen, um eine Toilette aufzusuchen. Dort kam es zum Abortus. Mit dem toten, an der Nabelschnur noch hängenden Kind zwischen den Beinen, an denen das Blut hinunterrann, trat sie aus dem Bad auf einen Gang des Krankenhauses, auf dem rund 30 Patienten anderer Abteilungen warteten. Der Anblick versetzte alle in größte Panik, niemand wußte, was geschah. Ein Krankenhausportier rief angesichts des Anblicks den Polizeinotruf an. Als einige Polizeibeamte eintrafen, war die Abtreibung allerdings längst abgeschlossen. Die Frau hatte den Operationssaal, in den man sie schließlich zurückgebracht hatte, bereits verlassen, befand sich in ihrem Krankenzimmer und schaute fern. Nach ärztlicher Zustimmung führten zwei Beamte mit ihr ein klärendes Gespräch.
Die alleinstehende Frau hatte ihres Alters wegen eine Fruchtwasseruntersuchung als „unentbehrlich“ betrachtet. Die Diagnose lautete Klinefelter-Syndrom. Man erklärte der unwissenden Frau, die „höchst besorgt“ war, daß es sich dabei um eine „schreckliche Sache“ handle, an der ihr Kind „ein Leben lang leiden“ werde. Zumindest hatte sie es so verstanden. Da stand für sie die Entscheidung fest: „Es gab keine andere Wahl. Sobald man mir mitgeteilt hatte, daß mein Sohn sein ganzes Leben lang krank sein werde, hatte ich keine Zweifel. Ich habe sofort instinktiv entschieden: Ich treibe ab.“, erklärte sie der Tageszeitung La Repubblica (13.02.2008).
Il Foglio ist es zu verdanken, die Öffentlichkeit informiert zu haben, daß das Klinefelter-Syndrom keineswegs eine lebenseinschränkende „Krankheit“ ist. „Ks47xxzy“ ist eine sogenannte Chromosomenanomalie bei Männern. „Es handelt sich hierbei um eine meist sporadisch auftretende Krankheit.“ (Informationen zu ks47xxy). Was die Gesundheitsministerin als „schwere Mißbildung“ bezeichnete, die eine Spätabtreibung „in vollem Umfang rechtfertige“, bedeutet in Wirklichkeit meist vor allem nur kleinere Hoden. In schwereren Fällen kann dies auch Sterilität bedeuten. Es gibt auch dafür beachtliche Behandlungsmethoden. Ansonsten allerdings ist die Lebensqualität nicht beeinträchtigt. Beim dann getöteten Kind der 39-Jährigen hatte man übrigens nur eine leichte Form des Syndroms diagnostiziert. „Abtreibung aus Ignoranz“ nannte es der Doyen der italienischen Gynäkologen, Giorgio Pardi bereits 2006. „Die (unmenschliche) Utopie des gesunden Kindes um jeden Preis“, nennt es Francesca Lozito in der heutigen Ausgabe der Tageszeitung Avvenire.
Allein in Italien leben 60.000 Männer mit der leichten chromosomischen Anomalie. Gut die Hälfte von ihnen wisse nicht einmal, davon betroffen zu sein, erklärte der Vorsitzender der italienischen Vereinigung von Klinefelter-Betroffenen. „Das sagt eigentlich schon sehr viel aus“.
Ein Gynäkologe der Universitätsklinik der La Sapienza in Rom erklärte, daß er im Durchschnitt zwei Fälle von Klinefelter im Monat hat. Es sei heute ungemein schwierig, besorgte Eltern von der „Harmlosigkeit“ des Syndroms zu überzeugen. Der Drang zu einem „gesunden Kind“ sei heute überdurchschnittlich ausgeprägt. Ferrara ließ sich demonstrativ danach untersuchen, ob er auch mit dem Klinefelter-Syndrom lebe. Der Arzt dankte ihm für diese Initiative: „Sie können sich gar nicht vorstellen, wie das die Aufklärungsarbeit erleichtert. Ich muß die besorgten Eltern nicht mehr abstrakt überzeugen, sondern kann einfach auf Sie verweisen, einen führenden Intellektuellen, der schon Abgeordneter zum Europäischen Parlament war, Regierungssprecher, Minister, Chefredakteur und Fernsehmoderator ist.“
Nach der Aufdeckung der eigentlichen Hintergründe mußten die anderen Tageszeitungen zurückrudern und korrigierten ihre Berichterstattung. Das Medium Fernsehen ist zu schnellebig als daß man ähnliche Schritte setzen würde. Die Gesundheitsministerin hat kein Wort zurückgenommen, vielmehr verharrt sie in Blindheit: Ideologie geht eben vor Wahrheit, vor Menschlichkeit und vor Leben, dem Leben eines Kindes, das morgen vielleicht einmal Regierungssprecher oder Minister werden hätte können.
Die aufgeblasenen Ereignisse rund um den Fall von Neapel (der eigentliche Casus, das getötete Kind spielt für Abtreibungsbefürworter ohnehin keine Rolle) zeigen, wie gereizt und nervös die Abortisten auf die Initiative für ein Abtreibungsmoratorium und die damit verbundene Diskussion reagieren. Einige Umstände des ganzen Vorfalls scheinen besonders bedenklich: Einmal das Interview der Frau aus Neapel über die Motive ihrer Abtreibung: „Und bitte, daß sich nun niemand erlaubt von Egoismus zu sprechen, denn meine Entscheidung ging genau in die andere Richtung.“, rechtfertigte sie sich. Sie beklagte sich dabei über die Polizei: „Man hat mich in einer unmöglichen Art behandelt. Man verhörte mich, als hätte ich, was weiß ich was angestellt. In Wirklichkeit habe ich gelitten. Dieses Kind wollte ich um jeden Preis haben. Nie hätte ich abgetrieben, wenn ich nicht die schreckliche Diagnose erhalten hätte.“ Das Interview ist sehr interessant, denn es sagt viel über gängige Ansichten und Meinungen, über verschwommenes Rechts- und Unrechtsbewußtsein nach 30 Jahren Abtreibungsfreigabe aus.
Zum anderen macht ein Blick auf die Demonstrantinnen nachdenklich: Schlimmer als die Chromosomenverwirrung scheint da schon eine andere Verwirrung zu sein. Vereinzelt fanden sich unter den Demonstranten auch jüngere Frauen, die mit ihren Kleinkindern an einer Kundgebung teilnahmen, um für die Tötung von Kindern zu demonstrieren.
Und schließlich noch die Entscheidung des Obersten Richterrates (CSM), des höchsten Selbstverwaltungsorgans der italienischen Gerichtsbarkeit. Dieser ordnete eine Inspektion in Neapel an, um zu prüfen, ob der zuständige Staatsanwalt, der die Polizei koordinierte, vorschriftsmäßig gehandelt habe. Konkret bedeutet dies, daß man sein Vorgehen mißbilligt hat. Die Schnelligkeit dieser Entscheidung ist für italienische Verhältnisse besonders bemerkenswert. „Nun wissen wir, daß wir auch eine Abtreibungspartei im Obersten Richterrat haben“, kommentierte Ferrara in seiner Zeitung.
Er sieht gerade wegen dieser Erscheinungen die Notwendigkeit für einen „Kulturkampf“ für ein Abtreibungsmoratorium, wie er ihn nennt, einen „großen kulturellen Kampf für den Wert des Lebens, damit die Menschen, nennen wir es ruhig die Heiligkeit des Lebens wieder begreifen.“