Vom Glaubenszweifel zum Atheismus


von Rudolf Willeke

Anzei­ge

In einer Anspra­che vom 24.Juli 1958 bezeich­ne­te Papst Pius XII. als Wur­zeln der moder­nen Apo­sta­sie den wis­sen­schaft­li­chen Athe­is­mus, den dia­lek­ti­schen Mate­ria­lis­mus, den Ratio­na­lis­mus, den Lai­zis­mus und als ihre gemein­sa­me Mut­ter die Freimaurerei.


Zum Aspekt Frei­mau­re­rei ist nur in Erin­ne­rung zu brin­gen, daß zehn Päp­ste in Fol­ge (von Kle­mens XII. bis Pius XII.) die Frei­mau­re­rei als Gegen­kir­che, als Syn­ago­ge Satans, als Feind der Kir­che strikt ver­ur­teilt und über jeden Frei­mau­rer ipso fac­to die Exkom­mu­ni­ka­ti­on aus­ge­spro­chen haben, wäh­rend sich die Päp­ste nach Pius XII. der Frei­mau­re­rei gegen­über tole­ran­ter und offe­ner gezeigt haben. Das Kir­chen­recht (CIC) in der letzt­gül­ti­gen Fas­sung nennt Frei­mau­rer nicht mehr aus­drück­lich als Exkommunizierte.

Die Kir­che stand nach dem Zwei­ten Vati­ka­ni­schen Kon­zil 1962–65 und in den Fol­ge­jah­ren unter dem Leit­ge­dan­ken des „aggior­na­men­to“, des Dia­logs und des Öku­me­nis­mus. Kar­di­nal Ratz­in­ger stell­te als Prä­fekt der Glau­bens­kon­gre­ga­ti­on am 26.November 1983 klar: „Das Ver­dikt über die Frei­mau­re­rei blei­be unver­än­dert, weil deren Grund­sät­ze mit der Leh­re der Kir­che unver­ein­bar sei­en. Des­halb bleibt der Bei­tritt zu die­sen Ver­ei­ni­gun­gen unter­sagt. Katho­li­sche Chri­sten, die der Frei­mau­re­rei ange­hö­ren, befin­den sich im Zustand der schwe­ren Sün­de und dür­fen nicht an der Hei­li­gen Kom­mu­ni­on teilnehmen.“

Im Jah­re 1755 wur­de das mit­tel­al­ter­lich-christ­li­che Den­ken, wur­de der Glau­be an den Gott, der sich im Alten und Neu­en Testa­ment geof­fen­bart hat, tief erschüt­tert. Vor 250 Jah­ren wur­de Lis­sa­bon, eine der archi­tek­to­nisch schön­sten, öko­no­misch reich­sten und kul­tu­rell niveau­voll­sten Städ­te der dama­li­gen Welt, bin­nen Minu­ten nahe­zu voll­stän­dig zer­stört. Ein über Por­tu­gal her­ein­bre­chen­des Erd­be­ben – ver­gleich­bar mit Beben in Pakistan/​Kaschmir 2005 (mit 70 000 Toten) und dem Tsu­na­mi in Süd­ost­asi­en (mit etwa 100 000 Toten) – riß zusam­men mit einer 12 m hohen Flut­wel­le 60 000 Ein­woh­ner der Stadt und ihrer Umge­bung in den Tod. Ange­sichts die­ser mensch­li­chen Kata­stro­phe stell­ten sich dem reli­gi­ös den­ken­den Men­schen am Vor­abend der Auf­klä­rung die ersten Fra­gen des Zwei­fels an Got­tes Lie­be, Gerech­tig­keit und AII­macht. Die­se drei Fra­gen nach der Exi­stenz Got­tes, nach dem Ursprung des Bösen in der Welt und nach der Frei­heit des Men­schen lauten:

1. Wie kann der güti­ge, den men­schen­freund­li­che Gott die­se Kata­stro­phe zulas­sen? Ist er viel­leicht doch nicht der men­schen­freund­li­che, son­dern eher der eifern­de, zür­nen­de, und rach­süch­ti­ge Gott?
2. Wenn unser Gott des Alten und Neu­en Testa­men­tes der all­mäch­ti­ge Gott ist, der die Geset­ze der Natur außer Kraft set­zen kann, der auch heu­te in das Welt­ge­sche­hen gebie­tend ein­grei­fen kann, die­ses mensch­li­che Elend nicht ver­hin­dert hat, ist er dann wirk­lich oder nur in der religi¬ösen Vor­stel­lung des Men­schen der Herr­scher über das Welt­all? Wie kann die­ser abso­lu­te Herr­scher über das All die Macht des Unheils und des Bösen über die Welt zulassen?
3. Wo bleibt zwi­schen der All­macht Got­tes und der Macht des Bösen noch Raum für die Frei­heit des Men­schen in der Welt?

Die Theo­di­zee, die Got­tes­leh­re der katho­li­schen Reli­gi­on, wur­de über Nacht erschüt­tert: Gott ist ent­we­der nicht (aus­schließ­lich) gut, barm­her­zig, gerecht oder Gott ist nicht all­mäch­tig, er kann nicht alles, was er will oder was not­wen­dig ist, um unend­li­ches Leid von sei­nen Gläu­bi­gen abzuwenden.

Der gewis­ser­ma­ßen erste gro­ße Glau­bens­zweif­ler des aus­ge­hen­den Mit­tel­al­ters exi­stier­te rund 250 Jah­re vor dem Ereig­nis von Lis­sa­bon. Mar­tin Luther unter­nahm 1512 im Auf­trag sei­nes Augu­sti­ner-Ordens eine Rei­se nach Rom und hielt theo­lo­gi­sche Vor­le­sun­gen an der Uni­ver­si­tät Wit­ten­berg, bei denen er sein per­sön­li­ches Ver­ständ­nis von der „Gerech­tig­keit Got­tes“ öffent­lich vor­trug. Mit sei­ner Recht­fer­ti­gungs­leh­re „sola gra­tia“ (allein durch Gna­de und Barm­her­zig­keit Got­tes) bzw. „sola fide“ (allein durch den Glau­ben) ist der sün­di­ge Mensch vor Gott gerecht­fer­tigt (Gerecht­fer­tig­ter und Sün­der zugleich) begab sich M. Luther in Wider­spruch zur katho­li­schen Recht­fer­ti­gungs­leh­re, wonach der Christ das Heil, die ewi­ge Selig­keit nicht allein durch den Glau­ben des Getauf­ten, nicht allein durch die Barm­her­zig­keit Got­tes, son­dern auch durch gute Wer­ke (Cari­tas) und vor allem durch die Sakra­men­te der Kir­che erlangt.

Mit den mensch­lich ver­ständ­li­chen Glau­bens­zwei­feln und der Refor­ma­ti­on spal­te­te sich einer­seits die Chri­sten­heit in die evan­ge­li­sche und katho­li­sche Kon­fes­si­on, wur­de ande­rer­seits der Glau­be an den drei­per­sön­li­chen Gott geschwächt, der „Glau­be“ an die Auto­no­mie und an das Selbst­be­stim­mungs­recht des Men­schen, an sei­ne Unab­hän­gig­keit von Gott und Kir­che gestärkt und über­zo­gen. Infol­ge der Refor­ma­ti­on führ­ten die Bau­ern­krie­ge um 1525 zu einem fürch­ter­li­chen Gemet­zel mit über 100 000 Toten, mit 1 000 gebrand­schatz­ten Klö­stern und Schlös­sern sowie mit Hun­der­ten von ver­wü­ste­ten Dör­fern, führ­te der 30-jäh­ri­ge Krieg zwi­schen den Nie­der­lan­den, Schwe­den und Deutsch­land 1618–1648 zur Mas­sen­ver­elen­dung und Zer­stö­rung gan­zer Pro­vin­zen, vor allem in Deutschland.

Vier­zig Jah­re vor der Erschüt­te­rung des por­tu­gie­si­schen Lan­des und des reli­giö­sen Glau­bens ver­öf­fent­lich­te der Phi­lo­soph Gott­fried Wil­helm Leib­niz (1710) sei­ne berühm­te Theo­di­zee, sei­ne Gedan­ken über die Güte Got­tes, die Frei­heit des Men­schen und den Ursprung des Bösen in der Welt, in der aus­ge­spro­che­nen Absicht, die Grund­la­gen des christ­li­chen Glau­bens gegen die Skep­ti­ker, die Ver­un­si­cher­ten und Glau­bens­zweif­ler „wis­sen­schaft­lich“ zu verteidigen.

Aus den Zwei­feln des Men­schen an Gott erwuchs in den näch­sten 50 Jah­ren der Auf­stand und die Ver­leug­nung Got­tes durch den „wis­sen­schaft­lich auf­ge­klär­ten“, den „auto­no­men“, den „ver­nünf­ti­gen“ Men­schen der fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on von 1789–1792/4.

Wenn heu­te vom „Wis­sen­schaft­li­chen Athe­is­mus“ die Rede ist, so ist damit die Gesamt­heit der Stim­men von Theo­lo­gen, Phi­lo­so­phen, Natur­wis­sen­schaft­lern, Päd­ago­gen und Poli­ti­kern gemeint, die sich im deutsch­spra­chi­gen Raum auf Arthur Scho­pen­hau­er (1788–1860) und Fried­rich Nietz­sche (1844–1900), im fran­ko­pho­nen Raum auf Jean Jac­ques Rous­se­au und Fran­cois Marie Arou­et (Vol­taire) berufen.

Von dem fran­zö­si­schen Frei­geist und Frei­mau­rer Vol­taire (1694–1778), Mit­glied der „Aca­de­mie fran­cai­se“ (1746) und der Loge „Neuf Soeurs“ (Neun Schwe­stern) ist die Paro­le, mit der er sei­ne pri­va­ten und dienst­li­chen Brie­fe unter­zeich­ne­te: „Écra­sez l’infà¢me!“ in die Geschich­te ein­ge­gan­gen. Mit dem Auf­ruf gegen Thron und Altar an die fran­zö­si­schen Revo­lu­tio­nä­re von 1789, d.h. gegen Staat und Kir­che: „Rot­tet sie aus, die Ver­ruch­te“, mein­te Vol­taire die römisch-katho­li­sche Kir­che Frank­reichs. Und es ist kein Zufall oder Betriebs­un­fall der Geschich­te, daß 1794, im fünf­ten Revo­lu­ti­ons­jahr, in der katho­li­schen Ven­dee 200.000 Bau­ern und Klein­bür­ger von den Pari­ser Auf­stän­di­schen im Namen der Ver­nunft abge­schlach­tet wurden.

Rous­se­au (1712–1778) behaup­te­te mit sei­ner erzie­hungs­phi­lo­so­phi­schen The­se, daß der Mensch von Natur aus gut sei, als guter Mensch gebo­ren wer­de und daß er erst durch die Gesell­schaft (Fami­lie, Kir­che, Zivi­li­sa­ti­on) bzw. durch den Staat ver­dor­ben, kri­mi­nell, qua­si ein böses Tier wer­de. Die­se Kampf­the­se rich­te­te Rous­se­au in erster Linie gegen die damals herr­schen­de Leh­re der Kir­che, daß der Mensch durch den Sün­den­fall am Anfang der Mensch­heits­ge­schich­te auch zum Bösen geneigt sei und des­halb zum Guten hin erzo­gen, kul­ti­viert, erlöst wer­den müsse.

Die evan­ge­li­sche Chri­sten­heit stellt der Auf­klä­rung die The­se gegen­über, der Mensch sei einer­seits gerecht­fer­tigt durch den Glau­ben und zugleich Sün­der durch und durch. Fried­rich Nietz­sche kann als der gro­ße Wider­sa­cher des Chri­sten­tums, als der radi­kal­ste Gegen­spie­ler und Zer­trüm­me­rer der Meta­phy­sik und des Glau­bens an Gott, als der wort­ge­wal­tig­ste und ein­fluß­reich­ste Phi­lo­soph des Atheismus/​ Nihi­lis­mus, als der gro­ße, größ­te „Umwer­ter aller Wer­te“ bezeich­net wer­den. Von Nietz­sche stammt der Auf­ruf an sei­ne Zeit­ge­nos­sen und Gleichgesinnten:

„Glaubt denen nicht, mei­ne Brü­der, die von über­ir­di­schen Hoff­nun­gen reden. Gift­ma­cher sind sie, ob sie es wis­sen oder nicht.“
„Einst war der Fre­vel an Gott der größ­te Fre­vel, aber Gott starb, und damit star­ben auch die Fre­vel­haf­ten (…) an der Erde zu fre­veln, ist jetzt das Frevelhafteste (…)
Oh, mei­ne Brü­der, zer­brecht die alten Tafeln.“

Gemeint sind die Geset­zes­ta­feln des Mose, die 10 Gebo­te, das gött­li­che Recht. In einer sei­ner letz­ten Stun­den vor dem end­gül­ti­gen Ver­sin­ken in gei­sti­ge Umach­tung schrie und schrieb Nietz­sche den Satz:

„Ich ver­ur­tei­le das Chri­sten­tum, ich erhe­be gegen die christ­li­che Kir­che die furcht­bar­ste aller Ankla­gen, die je ein Anklä­ger in den Mund genom­men hat, sie ist mir die höch­ste aller denk­ba­ren Kor­rup­tio­nen, sie hat den Wil­len zur letz­ten auch mög­li­chen Kor­rup­ti­on gehabt.
Ich hei­ße das Chri­sten­tum einen gro­ßen Fluch, die eine gro­ße inner­li­che Ver­dor­ben­heit, den einen gro­ßen Instinkt der Rache, (…) ich hei­ße das Chri­sten­tum den einen unsterb­li­chen Schand­fleck der Mensch­heit.“ [zitiert nach Georg May, Vor­trag am 16.1.2002 in Köl­le­bach, „Wel­ches sind die Vor­zei­chen für die Wider­ge­burt des Herrn?“]

Die­se Wor­te des Flu­ches zei­gen die gan­ze inne­re Zer­ris­sen­heit der Men­schen, die weder mit noch ohne Gott leben kön­nen, die ihn also ver­flu­chen und zugleich vor dem Ver­schwin­den der christ­li­chen Reli­gi­on, vor den Fol­gen der Paro­le „Gott ist tot“ warnen.

Rudolf Wil­le­ke, verh., zwei Kin­der, Stu­di­um der Wirt­schafts­wis­sen­schaf­ten und Päd­ago­gik in Frank­furt und Mün­chen. Stu­di­um Prak­ti­sche – und Rechts­phi­lo­so­phie, Psy­cho­lo­gie in Münster.

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