von Michaela Koller
Pater Jesús Hortal Sanchez’ Erwartungen, Hunderttausende würden Papst Benedikt XVI. bei seiner ersten Überseereise in Brasilien einen enthusiastischen Empfang bereiten, hatten sich erfüllt: Bei seiner Ankunft in dem Wallfahrtsort Aparecida am letzten Tag seiner Pastoralvisite, dem brasilianischen Tschenstochau, war der Papst von Hunderttausenden Gläubigen bei strahlendem Sonnenschein bejubelt worden. Er enttäuschte die Menge nicht, und winkte ihr durch das offene Fenster des Papamobils fröhlich zu. Bereits bei der ersten Heiligsprechung eines Brasilianers, des Franziskaners Antonio Galvà£o (1739–1822) am Freitag vor 1,2 Millionen Gläubigen, sowie beim Besuch der Fazenda da Esperanca, einem Zentrum für junge Drogenabhängige am Samstag, hatte der Papst die Herzen vieler Gläubiger gewonnen. Dabei hatten viele noch die Besuche seines charismatischen Vorgängers, Papst Johannes Paul II., lebendig in Erinnerung. Offiziellen Angaben zufolge waren nun nach Aparecida 200 000 bis 250 000 Gläubige gekommen, die teilweise bereits in der Nacht vor der Basilika auf den Papst gewartet hatten.
Im Vorfeld der Reise hatte es, wie zu erwarten war, einzelne kritische Stimmen von Befreiungstheologen gegeben, wie die von Leonardo Boff oder etwa Frei Betto. Deren Worte konnte die Warmherzigkeit, mit der das katholische Oberhaupt empfangen worden war, nicht herunterkühlen: „Die Basisgemeinden spielen heute keine so große Rolle mehr und die Zeit der Befreiungstheologie ist auch vorüber“, sagt Jesuitenpater Jesús Hortal Sánchez, Rektor der Päpstlichen Katholischen Universität in Rio de Janeiro und profunder Kenner der pastoralen Herausforderungen in Brasilien. Ein große Rolle spielten vielmehr inzwischen die neuen geistlichen Gemeinschaften, darunter die Gemeinschaft Emmanuel, die Schönstatt-Bewegung, das Neokatechumenat, comunione e liberazione. Diese kleinen Gemeinschaften hätten auch sehr viel Zuspruch, gerade unter den jungen Leuten. „Sie sprechen die Gefühle stärker an und geben dem Gebet mehr Raum“, erklärt Pater Hortal den neuen Trend weg von sozialen hin zu charismatischen Bewegungen.
Die Zahl der Gläubigen in Aparecida und bei anderen Höhepunkten der Reise hätte dennoch höher sein können: Seit Jahren schrumpft die katholische Kirche in Brasilien, aber auch in anderen lateinamerikanischen Ländern im Schnitt ein Prozent im Jahr. Freikirchen und Sekten, hauptsächlich charismatisch, undogmatisch und auf emotionale Effekte aus, haben dagegen starken Zulauf. Der chronischen Mangel an katholischen Priestern in seinem Land, habe dazu geführt, daß diese Gemeinschaften schneller bei den Menschen waren, um deren religiösen Bedürfnisse zu befriedigen. Das sei nicht das einzige Problem: „Seit rund zehn Jahren breitet sich der Atheismus gerade unter den Armen immer mehr aus“. Auch andere südamerikanische Länder, wie etwa Chile, sind von diesem Trend betroffen.
Die Brasilienreise Papst Benedikts XVI. mit der Eröffnung der fünften Generalversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe (CELAM) war schon vorab von Beobachtern als besonders bedeutsam für dieses Pontifikat eingestuft worden: Vor seiner Wahl zum katholischen Oberhaupt war der damalige Kardinal Joseph Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation verantwortlich für die zwei umstrittenen Instruktionen, Libertatis nuntius von 1984 sowie Libertatis conscientia von 1986 zur Befreiungstheologie. Und nun kritisierte Papst Benedikt XVI. bei seiner Reise wieder den Kommunismus: „Das marxistische System hat, wo immer es an der Regierung war, nur ein trauriges Erbe an wirtschaftlicher und ökologischer Zerstörung hinterlassen und darüber hinaus eine schmerzhafte Zerstörung des Geistes.“ Medienvertreter interpretierten dies als wiederholten Rückzug auf jenseitige Positionen, Ausweichen durch die Herausforderung der sozialen Gegensätze. Der CELAM-Delegierte Pater Joaquàn Alliende Luco, geistlicher Assistent des Hilfswerks päpstlichen Rechts „Kirche in Not“, weiß es besser. Er schätzt das katholische Oberhaupt als Kenner Mittel- und Südamerikas. „Als Kardinal war er mehrfach in Lateinamerika und hat sich mit den dortigen theologischen und pastoralen Fragestellungen beschäftigt.“ Darüber hinaus, so verrät der Schönstattpater Alliende, habe der Papst noch als Kardinal einen intensiven Dialog mit dem peruanischen Theologen Gustavo Gutiérrez geführt, der den Begriff Befreiungstheologie Anfang der siebziger Jahre geprägt hatte. „Eine ganze Woche“ hätten sich die Beiden, in Gegenwart weiterer Theologen, vor ein paar Jahren getroffen. Die Solidarität mit den Armen und eine Politik, von der christlichen Liebe geprägt, machten zudem den zweiten Teil seiner Enzyklika „Deus caritas est“ aus. Und in der Tat: In Aparecida erklärt der Papst, die christliche Religion sei „keine politische Ideologie, keine soziale Bewegung, kein Wirtschaftssystem“, sondern „der Glaube in den Gott der Liebe“.
Einen engen Zusammenhang zwischen der Enzyklika Papst Benedikts XVI., die als erstes dieser päpstlichen Rundschreiben auch eine programmatische Bedeutung für dieses Pontifikat hat, und seinem Besuch in Brasilien sieht auch Pater Hans Stapel, den der Papst am vorletzten Tag seiner Reise auf der Fazenda da Esperança besuchte. In „Deus caritas est“ habe das katholische Oberhaupt über die Nächstenliebe geschrieben. Darüber zu reden reiche nicht, man müsse sie konkret umsetzen, dies habe der Papst mit seinem Besuch der Fazenda da Esperança getan. Der Bauernhof der Hoffnung, wie die Fazenda auf Deutsch heißt, ist ein Entzugs- und Rehabilitationszentrum, wo drogensüchtige und kriminelle Jugendliche mittels des Evangeliums aus der Szene herausgeholt werden. „Man kann sich gar nicht vorstellen, was es für die jungen Leute hier der Besuch bedeutet, die doch oft so unter Minderwertigkeitskomplexen leiden“, sagt der Franziskanerpater. Sein Zwillingsbruder Paul Stapel, der jahrelang mit ihm zusammengearbeitet hat und inzwischen Pfarrer im westfälischen Neheim ist, fühlte sich gar an den Gefängnis-Besuch Johannes XXIII. erinnert.
In jedem Fall ist die Reise Papst Benedikts in die neue Welt von historischer Dimension: Bei der Pastoralvisite in Brasilien ging es weniger um den alten Streit zwischen dem einstigen Chef der Glaubenskongregation und einigen Befreiungstheologen, wie hiesige Medienvertreter erwarteten, sondern um den Glauben selbst in der größten katholischen Nation der Welt. Da in Lateinamerika insgesamt fast die Hälfte der 1,1 Milliarden Katholiken weltweit leben, ging es bei den angesprochenen Problemen auch um globale Trends. Pater Hortal zufolge sei es kein Zufall, daß der Papst das Motto „Jünger und Missionare Jesu Christi, damit unsere Völker in ihm das Leben haben. Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben (Joh 14,6)“ für die Eröffnung der fünften Generalversammlung des lateinamerikanischen Bischofsrats (CELAM) in Aparecida gewählt hat. Dies stehe im Zusammenhang mit der Veröffentlichung seines Jesus-Buchs. „Er möchte, daß sich die Menschen wieder mehr Jesus Christus, Zentrum unseres Glaubens, zuwenden.“ Und in Aparecida sagte dann auch Papst Benedikt: „Gott ist die grundlegende Realität – nicht ein nur ausgedachter, hypothetischer Gott, sondern der Gott mit dem menschlichen Antlitz. Er ist der Gott mit uns, der Gott der Liebe bis zum Kreuz.“ Auf die vielfältigen pastoralen und politischen Herausforderungen, vom Umgang mit Abtreibungsliberalen, sozialer Ungerechtigkeit, über die „aggressive Bekehrung durch Sekten“ bis hin zur Aushöhlung des Glaubens in den eigenen Reihen, antwortet das katholische Oberhaupt mit der Konzentration auf das Wesentliche, mit dem Blick auf das Antlitz Christi.