von P. Matthias Gaudron
Die moderne Theologie sieht in der Unterscheidung von Natur und Gnade bzw. von Natur und Übernatur einen unglücklichen Dualismus, den es zu überwinden gilt bzw. den man bereits überwunden zu haben glaubt. Pater Henri de Lubac z. B. warf der Neuscholastik vor, Natur und Gnade in zwei Seinsbereiche eingeteilt zu haben, die nichts miteinander zu tun hätten. Die Gnade würde hier der Natur nur äußerlich aufgesetzt, und man sprach in der Folgezeit – also bis heute – oft von einer angeblichen Zwei-Stockwerk-Lehre, die die Neuscholastik aufgestellt habe: Sie habe Natur und Gnade künstlich getrennt, so daß sie wie zwei Stockwerke wären, die aufeinandergesetzt seien, ohne viel miteinander zu tun zu haben.
Dagegen behauptete de Lubac eine Hinordnung der Natur auf die Gnade. Die Natur dränge von sich aus auf die übernatürliche Erfüllung, der Mensch habe eine natürliche Sehnsucht nach der Gottesschau, und Pater de Lubac berief sich für seine These auch auf den hl. Thomas von Aquin. – Wir werden noch zu untersuchen haben, ob diese Berufung eine Berechtigung hatte oder nicht.
Wie allgemein bekannt ist, hat Pius XII. gegen diese Lehren in der Enzyklika Humani Generis (1950) Stellung genommen und die Ungeschuldetheit der Gnade betont. Der Satz dieser Enzyklika: „Andere unterhöhlen den Begriff der unverdienten übernatürlichen Gnadenordnung, in dem sie der Meinung sind, Gott könne keine vernunftbegabten Wesen schaffen, ohne sie zur seligmachenden Anschauung Gottes zu bestimmen und zu berufen“ (HK 450), war sicher gegen de Lubac gerichtet, auch wenn er nicht namentlich erwähnt wurde.
De Lubac legt auch Gal 1,15–16: „Als es aber Gott, der mich von meiner Mutter Schoß an ausgesondert und durch seine Gnade berufen hat, gefiel, seinen Sohn in mir zu offenbaren …“, so aus, als würde Christus dem Menschen dessen tiefstes Wesen offenbaren: „Indem er den Vater offenbart und indem er durch ihn geoffenbart wird, läßt Christus den Menschen vollends sich selbst offenbar werden. Indem er den Menschen in Besitz nimmt, indem er ihn ergreift und ihn bis auf den Grund seines Wesens durchdringt, zwingt er ihn, auch selbst in sich hinabzusteigen, um dort plötzlich bis dahin ungeahnte Gebiete zu entdecken. Durch Christus steht die Person in ihrer Reife, der Mensch ragt definitiv aus dem Universum hervor.“(1) Von hier aus geht ein Weg zum II. Vatikanum und der Aussage von Gaudium et spes Nr. 22: „Christus, der neue Adam, macht … dem Menschen den Menschen kund“, sowie zur Interpretation dieser Konzilsaussage durch Kardinal Wojtyla, dies solle bedeuten, daß Christus dem Menschen kund mache, was schon mit ihm geschehen ist, daß er nämlich „Sein in Christus“ habe: „Die Offenbarung besteht darin, daß der Sohn Gottes durch seine Menschwerdung sich mit jedem Menschen vereint hat.“ (2) Die Mission der Kirche scheint demnach nur noch die Aufgabe zu haben, den Menschen ihr Erlöstsein mitzuteilen, nicht aber, ihnen die Erlösung zu bringen, da ja schon alle Menschen in Christus sind. Der einzige Unterschied zwischen einem Christen und einem Nichtchristen bestände demnach auf der Erkenntnisebene: Der Christ weiß, daß er erlöst ist, der Nichtchrist weiß es noch nicht. Auch bei Teilhard de Chardin gibt es keinen Unterschied zwischen Natur und Gnade. Alles ist bei ihm – wenigstens im Keim – göttlich, selbst die Materie. Alles entwickelt sich in einem evolutiven Prozeß hin auf den kosmischen Christus, den Punkt Omega. Dietrich v. Hildebrand bemerkt, Teilhard habe während eines persönlichen Gesprächs, als der Name „Augustinus“ fiel, ausgerufen: „Erwähnen Sie diesen unglückseligen Mann nicht. Er hat alles dadurch verdorben, daß er das Übernatürliche einführt hat.“(3) Karl Rahner sodann betont zwar die Ungeschuldetheit der Gnade, um nicht der kirchlichen Verurteilung anheim zu fallen. Aber er versucht sich durch seine Einführung des übernatürlichen Existenzials um diese kirchliche Verurteilung herumzumogeln, indem er sagt, die Gnade gehöre zwar nicht zur Natur, aber doch zur persönlichen Existenz des Menschen. Da sie nicht zur Natur gehöre, sei sie dieser auch nicht geschuldet, aber faktisch gehöre zur Existenz jedes lebenden Menschen doch die Gnade dazu. Wenn der Mensch nur sich selber annehme, sei er schon in der Gnade.
„Die Predigt ist die ausdrückliche Erweckung dessen, was schon in der Tiefe des Menschenwesens da ist, nicht von Natur, sondern von Gnade. Aber als eine Gnade, die den Menschen, auch den Sünder und Ungläubigen, immer als unentrinnbarer Raum seines Daseins umfängt.“(4)
In der modernen Theologie gibt es also eine völlige Konfusion dieser beiden Bereiche der Natur und Übernatur, von denen man keinen klaren Begriff mehr hat.
David Berger bringt in seinem Buch Thomismus hierzu ein interessantes Zitat von Kardinal Ratzinger, der in bezug auf die Nouvelle Théologie sagt: „… die Unterscheidung von Natur und Übernatur wurde nun als in sich unzulässig erklärt. Anfangs schien diese Aufhebung des ‚Dualismus’ in Richtung eines Supranaturalismus zu tendieren. Alle Wirklichkeit sei christologisch zu deuten. Aber sehr schnell kippte die Tendenz um in einen platten Naturalismus, der auch das Christologische ins Allgemeine menschlicher Existenziale zurücknimmt. Wenn aber erst einmal dem Christentum seine übernatürliche Ebene bestritten ist, dann muß seine Verheißung in den Bereich des Natürlichen, des Diesseitigen, zurückgenommen werden: Der politische Messianismus, alle Banalitäten immanentistischer Theologien waren und sind notwendige Folge dieses Verlustes.“(5)
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(1) Catholicismus, S. 295 f; zitiert nach: Siri, Gethsemani, Aschaffenburg 1982, S. 59f
(2) Zeichen des Widerspruchs, Herder 1979, S. 121
(3) Das Trojanische Pferd in der Stadt Gottes, Regensburg 1968. S. 339
(4) Karl Rahner, Natur und Gnade, in Schriften zur Theologie IV, Benzinger, Einsiedeln 1960, S. 229
(5) Thomismus, Köln 2001, S. 209
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