(Rom) Die spanische Tageszeitung El Pais veröffentlichte in ihrer gestrigen Sonntagsausgabe ein ausführliches Interview mit Papst Franziskus. Darin sagte das katholische Kirchenoberhaupt, daß die „Befreiungstheologie eine positive Sache für Lateinamerika war“, „man in China die Religion praktizieren“ könne und er „wegen meiner Sünden viel mehr unverstanden“ sein müßte. Ein Auszug.
Zur Befreiungstheologie
El Pais: Glauben Sie nicht, daß die Kirche nach dem gescheiterten Versuch der Befreiungstheologie viele Positionen zum Nutzen anderer Religionen und sogar Sekten verloren hat? Warum ist das so?
Papst Franziskus: Die Befreiungstheologie war eine positive Sache in Lateinamerika. Es wurde vom Vatikan der Teil verurteilt, der für die marxistische Analyse der Wirklichkeit optierte. Kardinal Ratzinger erließ zwei Instruktionen, als er Präfekt der Glaubenskongregation war. Eine sehr klare über die marxistische Analyse der Wirklichkeit, und eine zweite, in der er auf die positiven Aspekte zurückkam. Die Befreiungstheologie hatte positive Aspekte, aber auch Abirrungen, vor allem im Teil der marxistischen Analyse der Wirklichkeit.
Zur Volksrepublik China
El Pais: Kann die vatikanische Diplomatie bald auf China ausgeweitet werden?
Papst Franziskus: In der Tat gibt es bereits eine Kommission, die mit China arbeitet und sich alle drei Monate trifft, einmal hier [Vatikan], einmal in Peking. Und es gibt eine Menge Dialog mit China. China hat immer die Aura des Geheimnisvollen, das ist faszinierend. Vor zwei oder drei Monaten waren sie glücklich mit der Ausstellung der Vatikanischen Museen in Peking. Und sie kommen im kommenden Jahr mit ihren Dingen, ihren Museen in den Vatikan.
El Pais: Werden Sie bald nach China reisen?
Papst Franziskus: Ich, wenn ich eingeladen werde. Das wissen sie. In China sind übrigens die Kirchen voll. Die können in China die Religion ausüben.
Zu Europa
El Pais: Sind Sie der Meinung, Heiliger Vater, daß die Zeichen heute in Europa denen in Deutschland 1933 ähneln?
Papst Franziskus: Ich bin kein Techniker darin, aber über das Europa von heute verweise ich auf die drei Reden von mir. Die beiden von Straßburg und die dritte, als ich den Karlspreis erhielt, den einzigen Preis, den ich, weil sie so darauf beharrt haben wegen des Augenblicks, den Europa durchlebt, als Dienst angenommen habe. Diese drei Reden sagen, was ich über Europa denke.
Zu Paul VI. und dem Mißverstandenwerden
El Pais: Bereits vor 50 Jahren gab es schon fast alles. Das Zweite Vatikanische Konzil, die Reise von Paul VI. und die Umarmung mit dem Patriarchen Athenagoras im Heiligen Land. Einige sagen, um Sie zu verstehen, sollte man Paul VI. kennen. Er war zu einem bestimmten Moment ein unverstandener Papst. Fühlen Sie sich auch ein bißchen so, als ein unbequemer Papst?
Papst Franziskus: Nein, nein. Ich denke, daß ich wegen meiner Sünden viel mehr mißverstanden werden müßte. Der Märtyrer des Nichtverstandenseins war Paul VI. Evangelii gaudium, das der Rahmen der Pastoral ist, die ich der Kirche jetzt geben möchte, ist eine Aktualisierung von Evangelii nuntiandi von Paul VI. Er ist ein Mann, der in der Geschichte vorwärts ging. Und er hat gelitten, viel gelitten. Er war ein Märtyrer. Und viele Dinge konnte er nicht machen, weil er als Realist wußte, daß er es nicht konnte und so hat er gelitten, aber er hat dieses Leiden angeboten. Und er tat, was er tun konnte. Und was tat Paul VI. am besten: säen. Er säte Dinge, die später in der Geschichte geerntet wurden. Evangelii gaudium ist eine Mischung aus Evangelii nuntiandi und dem Dokument von Aparecida [2007, Lateinamerikanische Bischofskonferenz]. Dinge, die von unten gewachsen sind. Evangelii nuntiandi ist das beste nachkonziliare Pastoraldokument und hat nichts von seiner Aktualität verloren. Ich fühle mich nicht falsch verstanden. Ich fühle mich begleitet, begleitet von allen Typen von Leuten, Jungen, Alten, … Ja, einige da draußen sind nicht einverstanden, und das ist ihr Recht, denn wenn ich mich schlecht fühlen würde, weil einige nicht einverstanden sind, wäre in meiner Haltung der Keim eines Diktators. Sie haben das Recht, nicht einverstanden zu sein. Sie haben das Recht, zu denken, daß der Weg gefährlich ist, daß er schlechte Resultate bringen könnte, daß … sie haben das Recht. Aber immer unter der Bedingung, daß sie in einen Dialog eintreten, und nicht daß sie Steine werfen und die Hand verstecken, das nicht. Darauf hat kein Mensch ein Recht. Einen Stein zu werfen, aber die Hand zu verstecken, das ist kriminell. Alle haben ein Recht zu diskutieren, und hoffentlich diskutieren wir viel, weil uns das abhobelt, uns eint. Die Diskussion eint sehr. Die Diskussion mit gutem Blut, nicht mit Verleumdung und all dem …
Einleitung/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: OSS/El Pais (Screenshot)