Für Weißes Haus ist Christenverfolgung in Syrien und im Irak „kein Völkermord“


(Damas­kus) Die Zah­len sind erschreckend. Laut UNHCR sind seit 2011 18 Pro­zent aller Syrer vor dem Krieg ins Aus­land geflüch­tet. Wei­te­re Mil­lio­nen sind inner­halb Syri­ens auf der Flucht. Unter den Chri­sten des Lan­des ist die Lage noch viel dra­ma­ti­scher. Seit die Isla­mi­sten Jagd auf sie machen, haben 60 Pro­zent Schutz in den Nach­bar­staa­ten gesucht. Vor Aus­bruch des Krie­ges leb­ten fast zwei Mil­lio­nen Chri­sten im Land. Laut World Chri­sti­an Data­ba­se sind es heu­te nur mehr 770.000. Von den in Syri­en ver­blie­be­nen Chri­sten sind vie­le inner­halb der Lan­des­gren­zen auf der Flucht. Obdach- und Hei­mat­lo­sig­keit prä­gen das Schick­sal von vier Fünf­tel der syri­schen Chri­sten. Chri­sten wur­den in die­sen fünf Kriegs­jah­ren allein wegen ihres Glau­bens und gezielt getö­tet, ver­trie­ben und ver­sklavt. Ihre Häu­ser wur­den nie­der­ge­brannt, christ­li­che Sym­bo­le syste­ma­tisch besei­tigt und ihre Kir­chen zer­stört. Obwohl die Zah­len eine kla­re Spra­che spre­chen, ist für die US-Regie­rung unter Prä­si­dent Barack Oba­ma in Syri­en und im Irak kein Völ­ker­mord gegen die Chri­sten im Gange.

Anerkennung als Genozid beutet rechtliche Verpflichtungen

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Das bekräf­tig­te jüngst John Ear­nest, der Spre­cher des Wei­ßen Hau­ses bei einer Pres­se­kon­fe­renz. Er nann­te auch den Grund dafür, war­um die US-Regie­rung die Augen vor dem Leid der Chri­sten im Nahen Osten ver­schließt: „Mein Gedan­ken ist, daß die Ver­wen­dung die­ses Wor­tes [Geno­zid] eine kla­re recht­li­che Bedeu­tung hat, die der­zeit nicht gege­ben ist.“ Aus der Aner­ken­nung als Völ­ker­mord wür­den sich völ­ker­recht­li­che Ver­pflich­tun­gen erge­ben, durch die sich die Regie­rung Oba­ma im Nah­ost-Kon­flikt nicht bin­den las­sen will.

„Seit län­ge­rem haben wir unse­re Sor­ge bezüg­lich der vom Isla­mi­schen Staat (IS) ein­ge­setz­ten Tak­tik geäu­ßert, die reli­giö­sen Min­der­hei­ten im Irak und in Syri­en zu mas­sa­krie­ren. Wie Sie sich erin­nern, hat­ten gera­de am Beginn der Mili­tär­kam­pa­gne gegen den Isla­mi­schen Staat, die von unse­ren Mili­tärs aus­ge­führt wur­de, eini­ge der ersten, von Prä­si­dent Oba­ma befoh­le­nen Aktio­nen, den Schutz der Jesi­den zum Ziel, die von den Mili­zio­nä­ren auf dem Berg Sin­jar mit dem Rücken zur Wand gestellt wur­den“, so Ear­nest weiter.

Was für Jesiden gilt, gilt noch lange nicht für Christen

Franziskaner in den Ruinen von Aleppo
Fran­zis­ka­ner in den Rui­nen von Aleppo

Das Wei­ße Haus bestrei­tet damit, daß gegen die Chri­sten im Nahen Osten ein Geno­zid im Gan­ge ist, obwohl sowohl in Syri­en als auch im Irak der Groß­teil der Chri­sten aus ihrer Hei­mat ver­trie­ben wur­de und das Leben aller Chri­sten, nur wegen ihrer Reli­gi­ons­zu­ge­hö­rig­keit, bedroht ist. Auch grund­sätz­lich fällt dem Wei­ßen Haus zum The­ma Chri­sten nichts ein, denn der ein­zi­ge kon­kre­te Hin­weis, daß Prä­si­dent Oba­ma, Schutz­maß­nah­men befoh­len habe, gilt den Jesi­den. Und was für die Jesi­den gilt, gilt noch lan­ge nicht für die Chri­sten. Kurz­um: Dem Spre­cher des Wei­ßen Hau­ses wol­len die Chri­sten nicht über die Lip­pen kommen.

Über­haupt weiß das Wei­ße Haus zur Ver­fol­gung der Min­der­hei­ten in Syri­en nichts zu sagen. Die kon­kre­ten Hin­wei­se bezie­hen sich alle auf den Irak. Ear­nest wie­der­hol­te im März 2016 wört­lich den Bericht über die Nini­ve-Ebe­ne, der im August 2014 vom US-Holo­caust Memo­ri­al Muse­um erstellt wur­de. Dar­in heißt es, daß „unter der Ideo­lo­gie des Isla­mi­schen Staa­tes, die Ange­hö­ri­gen von Reli­gio­nen, die als Ungläu­bi­ge oder Apo­sta­ten betrach­tet wer­den – ein­schließ­lich der Jesi­den –, Ziel von Ver­trei­bung, Erpres­sung oder Zwangs­be­keh­rung sind.“

Von einem Geno­zid gegen die reli­giö­sen Min­der­hei­ten war im Bericht kei­ne Rede. Vor allem fan­den auch dar­in die Chri­sten kei­ne Erwäh­nung, obwohl im Juli 2014 durch die isla­mi­sti­sche Erobe­rung der Nini­ve-Ebe­ne 100.000 Chri­sten auf der Flucht waren.

Daß ein neue­rer Bericht des UN-Men­schen­rechts­aus­schus­ses schwarz auf weiß fest­stell­te: „die Gewalt­hand­lun­gen gegen die Zivil­be­völ­ke­rung auf­grund ihrer Zuge­hö­rig­keit (oder ver­meint­li­chen Zuge­hö­rig­keit) zu einer eth­ni­schen oder reli­giö­sen Grup­pe kön­nen als Geno­zid gese­hen wer­den“, wur­de im Wei­ßen Haus noch nicht zur Kennt­nis genommen.

Weihnachts-Appell von US-Persönlichkeiten blieb ungehört

Kurz vor Weih­nach­ten, als Stim­men laut wur­den, daß die Stel­lung­nah­me des Wei­ßen Hau­ses zur Chri­sten­ver­fol­gung „zurück­hal­tend“ aus­fal­len wer­de, ergrif­fen eine Rei­he von Per­sön­lich­kei­ten, dar­un­ter Erz­bi­schof Donald Kar­di­nal Wuerl von Washing­ton, die Initia­ti­ve und lie­ßen dem US-Außen­mi­ni­ste­ri­um ein Doku­ment zukom­men, mit dem sie dar­um ersuch­ten, die Ver­fol­gung der Chri­sten und ande­rer reli­giö­ser Min­der­hei­ten in den bei­den Staa­ten auf der Grund­la­ge der Kon­ven­ti­on über die Ver­hü­tung und Bestra­fung des Völ­ker­mor­des von 1948 zu behan­deln. Das Doku­ment erin­nert an die Völ­ker­mord-Defi­ni­ti­on der Kon­ven­ti­on, die als Geno­zid genau benann­te Hand­lun­gen bezeich­net, „die in der Absicht began­gen wird, eine natio­na­le, eth­ni­sche, ras­si­sche oder reli­giö­se Grup­pe als sol­che ganz oder teil­wei­se zu zerstören“.

Das Wei­ße Haus sieht das anders. Am ver­gan­ge­nen 4. Febru­ar ver­ab­schie­de­te das Euro­päi­sche Par­la­ment – spät, aber doch – eine Reso­lu­ti­on, in der die Ver­fol­gung der Chri­sten und ande­rer reli­giö­ser Min­der­hei­ten durch den Isla­mi­schen Staat (IS) im Irak als „Geno­zid“ bezeich­net wird. Kon­kre­te Fol­gen hat­te die Erklä­rung noch nicht. Die EU-Abge­ord­ne­ten unter­schie­den dabei peni­bel die Chri­sten­ver­fol­gung in Syri­en von jener im Irak. Obwohl Ver­trei­bung, Ermor­dung und Ver­skla­vung durch den Isla­mi­schen Staat die­sel­be ist, wur­de die Ver­fol­gung in Syri­en weder erwähnt noch verurteilt.

Die Hal­tung des Westens stößt unter den Chri­sten im Nahen Osten auf Unver­ständ­nis. „Wir wis­sen, was Völ­ker­mord ist, den west­li­chen Regie­run­gen scheint man es erklä­ren zu müs­sen“, zitiert Ora Pro Siria Abou Kha­ram, einen syri­schen Chri­sten. Vor 100 Jah­ren ver­üb­ten die Tür­ken und die mit ihnen ver­bün­de­ten sun­ni­ti­schen Völ­ker nicht nur an den christ­li­chen Arme­ni­ern einen Geno­zid, son­dern auch an den Chri­sten im Nor­den Syriens.

Neuer Appell wider den Machiavellismus

Der in Washing­ton (aber auch in Brüs­sel) an den Tag geleg­te Machia­vel­lis­mus ver­an­laß­te die bei­den Pro­fes­so­ren an der Prin­ce­ton Uni­ver­si­tät, Cor­nel West und Robert P. Geor­ge, einen Appell zu ver­fas­sen, der sich an die „Gesamt­heit der ame­ri­ka­ni­schen Poli­tik“ rich­tet: „Im Namen von Anstand, Mensch­lich­keit und Wahr­heit for­dern wir Prä­si­dent Oba­ma, Staats­se­kre­tär John Ker­ry und die Mit­glie­der des Senats und des Abge­ord­ne­ten­hau­ses auf, öffent­lich anzu­er­ken­nen und zu erklä­ren, daß die Chri­sten im Irak und in Syri­en – zusam­men mit den Jesi­den, Turk­me­nen, Scha­bak und Schii­ten – Opfer eines Geno­zids sind, der vom Isla­mi­schen Staat gegen sie began­gen wird.“ Der Appell von West und Geor­ge wur­de in der Zeit­schrift First Things veröffentlicht.

1920 war noch fast jeder drit­te Syrer ein Christ. Ver­fol­gung, poli­ti­sche Kon­flik­te und eine unter­schied­li­che demo­gra­phi­sche Ent­wick­lung gegen­über den Sun­ni­ten ver­än­der­ten die Bevöl­ke­rungs­zu­sam­men­set­zung zuun­gun­sten der Chri­sten. Der sun­ni­ti­sche Ver­such, mit Unter­stüt­zung der USA und Sau­di-Ara­bi­ens, die Regie­rung des Ala­wi­ten Baschar al-Assad zu stür­zen, könn­te die Ver­nich­tung der Chri­sten des Lan­des bedeu­ten, der uralter christ­li­cher Boden ist.

Text: Giu­sep­pe Nardi
Bild: Il Foglio/​Ora Pro Siria (Screen­shots)

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