Gedanken von Giuliano Guzzo
Das Bild zeigt Mark Zuckerberg, der im spanischen Barcelona während der Präsentation des neuen Galaxy S7 lächelnd neben einer Masse von blicklosen Personen vorbeigeht, einer Masse von Menschen, die ihn nicht einmal bemerkt, weil ihre Augen von einer technologischen Maske gefangengenommen sind. Ein Bild, das einiges Unbehagen auslöste. Viele haben in diesem großen Publikum mit einer neuen Generation von Bildschirmen vor den Augen einen Blick in eine Zukunft gesehen, die jener von George Orwell gedachten Welt erschreckend ähnlich scheint. Ein Bild, das an ein unfreiwilliges Produktionsset für einen dystopischen Kinofilm erinnert.
Nur eine mißverstandene positive Utopie? Wohl kaum. Der Gründer von Facebook tat mit Orwellschen Aussagen das Seine dazu, die zusammen mit seinem breiten Lächeln das Ausmaß einer Quasi-Drohung annahmen.
„Die virtuelle Realität ist die Plattform der Zukunft. Sie wird unser Leben verändern.“
Übertreibungen eines gewieften Geschäftsmannes? Unbegründete Sorge? Ist es falsch, sich vor einem Saal voller sorgloser Menschen ohne Gesicht zu ängstigen? Panik ist nie ein guter Ratgeber, weshalb auch Katastrophenmalerei fehl am Platz wäre. Dennoch sollte Barcelona Anlaß zum Nachdenken sein. Bereits jetzt wird eine Verarmung der zwischenmenschlichen Beziehungen durch technischen „Fortschritt“ registriert, der genau genommen sinnloser Schnickschnack ist. Darin liegt eine ebenso perfide wie subtile Ironie. Die tatsächliche Nützlichkeit der mobilen Kommunikation von Mobiltelefon, Smartphone, iPad, iPhone etc. liegt bei weit unter einem Prozent. Das bedeutet im Umkehrschluß, daß 99 Prozent aller Aktivitäten mit diesen Geräten sinnlos sind. Ein genialer Schachzug, der ein Milliardengeschäft bedeutet durch Schaffung von vorher nicht vorhandenen Bedürfnissen, die dann großzügig für eine zunehmend abhängigere Klientel befriedigt werden.
Auf den Straßen, in den öffentlichen Verkehrsmitteln, in Lokalen kann man sie beobachten, die neuen Generationen, die ihr Smartphone fest umklammern, als sei es lebenswichtig für sie. „Nehmt mir alles, aber nicht mein Smartphone!“, scheint das ebenso verzweifelte wie trotzige Motto dieser Generation. Bei Mädchen scheint das Phänomen noch ausgeprägter als bei Jungen. Ob der Schein trügt?
Bei dieser Generation ist nichts mehr von einem noch einigermaßen vernunftgeleiteten Gebrauch festzustellen. Jüngst beobachtet: Eine Gruppe von Mitschülern trifft sich außerhalb der Schulzeit in einem McDonalds. Sie sitzen zusammen, nebeneinander. Alle starren in ihre Geräte, an denen sie mit trostlosem Gesichtsausdruck herumhantieren. Gelegentlich blitzen erfreute Regungen auf, um schnell wieder in den Ausdruck einer Leere zu verfallen. Keine Kommunikation findet untereinander statt. Wozu haben sie sich überhaupt getroffen?
„Brot und Spiele“ im demokratischen Duktus
Der technische Fortschritt verändert tatsächlich das Leben. Das 24 Stunden-Rund-um-die-Uhr-Fernsehen machte den Auftakt. Ganze Generationen wurden umerzogen, die Realität durch eine Scheinwelt zu ersetzen. Der technische Fortschritt perfektioniert diese Entwicklung, die an „Brot und Spiele“ der Römerzeit erinnert. Es waren die Herrscher, die damit ihr Volk ruhigstellten. Der Mechanismus ist derselbe geblieben. Nur: die alten Römer waren bestenfalls grobe Holzfäller im Vergleich zur eleganten Verführung unserer Tage.
Waren Sie schon einmal in einem Konzertsaal und haben aus der Galerie ins Parkett geblickt, sobald die Ansage ertönt, man solle die Mobiltelefone ausschalten? Hundertfach, fast in jeder Hand, leuchten plötzlich die Geräte auf. In der Pause werden sie sofort wieder angemacht. Sind diese Menschen alle so wichtig? Sind sie unabkömmlich, ständig in Bereitschaft? Mitnichten. Es sind die Gewohnheiten, die sich ändern. Es sind unsere Verhaltensweisen, die uns zum Gespött werden lassen, was nur nicht auffällt, weil die Massen von der neuen Sucht infiziert sind, sich fernlenken zu lassen.
Die Tücke liegt im „demokratischen“ Duktus. Der Diskurs zwischen Kollektiv und Individuum ist im Westen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, im Osten seit dem Zusammenbruch des Kommunismus zugunsten des Individuums entschieden. Erfolgte die Lenkung vorher durch Gruppe, erfolgt sie nun anscheinend individuell. Der Schein trügt und Mark Zuckerberg hat es mit einem Lächeln auf den Lippen in Barcelona vorgeführt. Das Bild zeigt ihn als zufriedenen Dompteur, der seine gefügige Beute inspiziert.
Darum haben wir allen Grund darüber nachzudenken, in welche Entwicklung wir uns hineinmanövrieren lassen durch die Stichworte „Erleichterung“, Bequemlichkeit“ und „technischer Fortschritt“. Mir fallen spontan drei Gedanken ein.
1. Zustand freiwilliger Dissenslosigkeit
Das Bild mit dem gefüllten Saal gesichtsloser Menschen, die anstelle der Augen neuartige Monitore tragen, zeigt uns nicht einen „Großer Bruder“, der gewaltsam die Individuen kontrolliert. Es ist subtiler. Es zeigt uns eine Masse von Individuen, die ohne Handschellen, sondern aus freien Stücken sich mit einer Art „Großen Bruder“ verbindet. Der Unterschied ist grundlegend: Im ersteren Fall handelt es sich um eine Diktatur, die jeden Widerspruch unterdrückt. Im zweiteren Fall haben wir hingegen einen Zustand des fehlenden Widerspruchs, den Zustand freiwilliger Dissenslosigkeit. Es geht in der Sache also um die Bereitschaft, etwas zuzulassen, die noch vor der Technologie kommt, die diese Bereitschaft nur ausnützt und verstärkt. Es ist diese kollektive Bereitschaft der Individuen, eine einschläfernde Fernlenkung und Fremdbestimmung zuzulassen, die jeden besorgen sollte, dem das Schicksal einer wirklich demokratischen Welt ein Anliegen ist.
2. Gegenwart nicht Zukunft
Zweitens ist das, was bei der Präsentation des neuen Galaxy S7 geschehen ist, nicht die Zukunft, sondern die Gegenwart. Zuckerberg sprach zwar von einer Zukunft, die in Wirklichkeit aber schon Gegenwart ist. Jene Personen, die in Barcelona die neuen und besorgniserregenden technologischen Masken getestet haben, einer neben dem anderen, im selben Saal, aber so als wäre jeder für sich, meilenweit voneinander entfernt, ein kommunikationsloses, kaltes Nebeneinander ohne gegenseitige Wahrnehmung, die auf die Spitze getriebene anonyme Isolation in der Masse, weil der entscheidende Blickkontakt fehlte, das sind nämlich dieselben, die vorher, einer neben dem anderen, vielleicht am Tresen miteinander einen Kaffee getrunken und geplaudert haben. Das Bild von Barcelona ist daher vor allem eine Mahnung, weil es eine Situation zeigt, die bereits existiert, weshalb es unverantwortlich ist, zu sagen, es zeige irgendeine ferne Zukunft.
3. „Virtuelle Realität“ und Macht
Drittens: Die „virtuelle Realität“ von der Mark Zuckerberg mit solchem Enthusiasmus spricht, existiert nicht und wird auch nie existieren. Es gibt nur eine Realität. Was geschieht also in Zuckerbergs „Zukunft“? Das, was wir schon durch die Erfindung des Fernsehens erlebt haben, nur in weit ausgefeilterem und daher manipulierendem Maßstab. Die eine Realität wird von jenen, die die Möglichkeiten dazu haben, neu zusammengesetzt, dank technischer Hilfsmittel und szenisch inszeniert. Die neuen Technologien bieten eine Vielzahl neuer Instrumente zu dieser manipulierenden Inszenierung der Wirklichkeit. Die Zeit, die ein Mensch mit dem neuen Monitor vor den Augen verbringen kann, ist exakt dieselbe, die er heute vor dem Computer oder dem Fernseher oder fixiert auf sein Smartphone verbringen kann. Der Faktor Zeit, und zwar Jetztzeit, nicht Vergangenheit, nicht Zukunft, bleibt immer derselbe. Es ist jene Zeit, die er mit dem Lesen eines Buches, mit Sport oder noch besser mit einem persönlichen Gespräch mit anderen Menschen verbringen könnte. Die „virtuelle Welt“ von Mark Zuckerberg versucht den Menschen umzulenken, wegzulenken von der von ihm gestalteten Wirklichkeit hin zu einem Puppentheater. Jede Minute, die umgelenkt wird zu einer inszenierten Unterhaltung, genannt „virtuelle Welt“, ist eine Minute, die in der selbstgestalteten und auch selbst zu verantwortenden Wirklichkeit, der authentischen Wirklichkeit fehlt. Eine inszenierte Unterhaltung ist aber keine „virtuelle Welt“, sondern eine Manipulation. Dahinter steht immer ein Strippenzieher, der die Puppen tanzen läßt, jemand, der diese Unterhaltung anbietet und bestimmt, heute eben „programmiert“. Er hat Macht. Schon das Fernsehen, insgesamt die Massenmedien, haben den Begriff von Realität erschüttert. Mark Zuckerberg will die bisherigen Massenmedien, die trotz Konzentrationsversuchen noch kein Monopol bilden, mit Hilfe der Technologie ersetzen und zu einem tatsächlichen Monopol konzentrieren. Wer sein Produkt kauft, wird auch von ihm bestimmt. Mag sein, daß es andere Anbieter auch geben kann. Der weltweite Gebrauch von Google, Facebook und Windows vermittelt jedoch eine Ahnung der künftigen Machtkonzentration, zu der ein „technischer Fortschritt“ die Tür öffnet, der so harmlos des Weges kommt mit Stichworten wie „Erleichterung“ und „Bequemlichkeit“ und etwas „Computerspiele“ für die Kinder.
Durch die Industrialisierung und Weiterentwicklung von Produktionsformen und Arbeitswelt samt der einhergehenden Verstädterung wurde eine Entfremdung des Menschen erkannt. Zuckerberg legt einen Masterplan zur definitiven Entfremdung des Menschen von sich selbst vor. Ein Schritt folgt nach dem anderen. Galaxy S7 ist nur eine Etappe davon.
Es fällt mir die Schlußszene des Films Vanilla Sky (2001) ein, mit Tom Cruise als Hauptdarsteller. Dieser Hauptdarsteller merkt am Ende in eine wunderbare, aber irreale Existenz eingetaucht zu sein, die er zusammen mit einem Verfahren zur Kyronisierung, des Einfrierens, erworben hatte und sagt:
„Ich will ein wirkliches Leben leben, ich will nicht mehr einen Traum.“
Es ist Zeit geworden, wie ich meine, über diesen Satz nachzudenken. Heute schon versucht man uns, diesen „Traum“ zu verkaufen. Ja, wir sollen ihn, zum Beweis von Demokratie und Selbstbestimmung, selber kaufen und bezahlen. Was uns heute angeboten wird, wird morgen schon als unverzichtbar gelten. Wir stehen schon auf dem Förderband in eine Scheinwelt, die uns verführerisch der schnöden Wirklichkeit entrücken soll, aber gleichzeitig manipulierbar und verwundbar macht, indem es uns unserem Menschsein entfremdet, das nicht im Selbstbezogensein, sondern im Ausgerichtetsein auf andere Menschen besteht.
Darum: So schön, unglaublich und faszinierend dieser „Traum“ auch sein mag, die Alternative dazu bleibt einzigartig, einmalig und unbezahlbar: ein wirkliches Leben.
Bild: Chiesa e postconcilio