(Rom) Vergangene Woche sprach Papst Franziskus über Verhütungsmittel und berief sich zur Rechtfertigung auf eine Ausnahmeregelung seines Vorgänger Papst Paul VI. Der Haken an der Sache: Paul VI. hatte nie eine solche Ausnahmeregelung erlaubt.
Auf dem Rückflug von Mexiko nach Rom wurde Papst Franziskus von den anwesenden Journalisten auf den Zika-Virus angesprochen. Der Papst verurteilte die Annahme, Abtreibung könnte unter gewissen Umständen das kleinere Übel sein. Gleichzeitig äußerte er jedoch, daß der Gebrauch von Verhütungsmittel zur Verhinderung von Geburten in manchen Fällen „einleuchtend“ sein könne. Daraus wurden dann die Schlagzeilen gestrickt mit dem Eindruck, daß Papst Franziskus im Zusammenhang mit dem Zika-Virus zum Gebrauch von Verhütungsmittel aufrufe, damit letztlich die WHO-Zika-Panik unterstütze und vor allem eine Kursänderung im Gegensatz zur Enzyklika Humanae vitae von 1968 vertrete.
Paul VI. und die Ordensfrauen in Belgisch-Kongo
Franziskus führte zur Rechtfertigung an, daß sein Vorgänger Paul VI. in den 1960er Jahren Ordensfrauen in Belgisch-Kongo die Verhütung erlaubt habe, um Schwangerschaften zu verhindern, weil eine marodierende Soldateska systematisch vergewaltigte. Wörtlich sagte Franziskus: „Paul VI. – ein Großer! – hat in einer schwierigen Situation in Afrika den Ordensfrauen den Gebrauch der Verhütungsmittel für die Fälle von Gewalt erlaubt“. Das katholische Kirchenoberhaupt fügte hinzu, daß „das Vermeiden einer Schwangerschaft nicht ein absolutes Übel ist und in manchen Fällen, wie dem von mir erwähnten des seligen Paul VI., war das einleuchtend.“ Zum Vergleich die offizielle deutsche Übersetzung der Papstworte durch den Heiligen Stuhl.
Das war am vergangenen 17. Februar. Zwei Tage später, am Freitag, wiederholte Vatikansprecher Pater Federico Lombardi SJ die von Franziskus erzählte Geschichte von Paul VI., die er zur Rechtfertigung seiner Verhütungs-Aussage herangezogen hatte. Lombardi bemühte sich gegenüber Radio Vatikan, Italienische Sektion, um eine nachträgliche Korrektur.
„Das Verhütungsmittel oder das Kondom können in besonderen und schwerwiegenden Notfällen auch Gegenstand einer ernsthaften Gewissensentscheidung sein. Das sagt der Papst.“
Und weiter:
„Das Beispiel das er zu Paul VI. machte, und der Genehmigung für Ordensfrauen die Pille gebrauchen zu dürfen, die der schwerwiegenden und anhaltenden Gefahr der Gewalt durch die Rebellen im Kongo ausgesetzt waren, zur Zeit der Kriegstragödie im Kongo, läßt verstehen, daß es sich nicht um eine normale Situation handelte, als das in Betracht gezogen wurde.“
Entstehung einer Großstadtlegende: eine Rekonstruktion
Allerdings kann sich im Vatikan niemand erinnern, daß ausgerechnet Papst Paul VI., zu dessen Lehramt die Enzyklika Humanae vitae gehört, eine solche „Genehmigung“ für Ordensfrauen im Kongo erteilte. Noch weniger läßt sich ein Dokument finden, das eine solche Bewilligung dokumentiert hätte.
Dabei handelt es sich, Katholisches.info hatte es sofort vermutet, um eine Großstadtlegende, die sich seit Jahrzehnten hält. Auch Papst Franziskus und sein Sprecher Lombardi sind darauf hineingefallen. Weil sie die Paul VI. angedichtete Geschichte so glauben wollten?
Der Vatikanist Sandro Magister versuchte die Entstehung dieser Legende zu rekonstruieren. Dazu ist es notwendig, bis ins Pontifikat von Johannes XXIII. zurückzugehen.
„Es war das Jahr 1961 und die Frage, ob Ordensfrauen in Gefahr einer Vergewaltigung auf Verhütungsmittel zurückgreifen könnten, beispielsweise in einem Krieg wie jenem, der gerade im Kongo wütete, wurde drei bekannten Moraltheologen vorgelegt“, so Magister.
Die Jahreszahl weist auf die Einführung der Pille und die damit verbundene Propaganda hin.
Die drei Theologen waren:
Pietro Palazzini, damals Sekretär der Konzilskongregation und späterer Kardinal;
Franz Hürth, Jesuit und Professor an der Gregoriana;
Ferninando Lambruschini, Professor an der Lateranuniversität.
Die drei Theologen veröffentlichten ihre Stellungnahme gemeinsam in der dem Opus Dei nahestehenden Zeitschrift Studi Cattolici (27/1961, S. 62–72) unter dem Titel: „Una donna domanda: come negarsi alla violenza? Morale esemplificata. Un dibattito“ (Eine Frau fragt: Wie kann man sich der Gewalt verweigern? Moral am konkreten Beispiel. Eine Debatte).
„Alle drei sprachen sich dafür aus, wenn auch mit unterschiedlichen Argumenten, daß es in einer solchen Situation zulässig sei, Verhütungsmittel zu gebrauchen. Das Heilige Offizium legte keinen Widerspruch ein und diese Position wurde allgemeine Lehre aller moraltheologischen Schulen“, so Magister.
Die Enzyklika Humanae vitae und Bosnien-Herzegowina
1968 veröffentlichte Papst Paul VI. die Enzyklika Humanae vitae und sagte darin:
„Ebenso ist jede Handlung in sich verwerflich, die entweder in Voraussicht oder während des Vollzugs des ehelichen Aktes oder im Anschluß an ihn beim Ablauf seiner natürlichen Auswirkungen darauf abstellt, die Fortpflanzung zu verhindern, sei es als Ziel, sei es als Mittel zum Ziel.“
Diese Verurteilung wurde dann 1997 wörtlich in die maßgebliche lateinische Fassung des Katechismus der Katholischen Kirche übernommen.
Auch nach Humanae vitae blieb unter Moraltheologen die Zulässigkeit des hypothetisch genannten Beispiels von Ordensfrauen im Kongo anerkannt. Paul VI., dem es zugeschrieben wird, hatte allerdings nie davon gesprochen.
1993 wurde die Frage erneut aufgeworfen, allerdings nicht mehr im Zusammenhang mit dem Kongo, sondern mit dem Krieg in Bosnien-Herzegowina. Damals war es der Moraltheologe Giacomo Perico aus dem Jesuitenorden, der mit seinem Aufsatz „Stupro, aborto e anticoncezionali“ (Vergewaltigung, Abtreibung und Verhütungsmittel) in der römischen Jesuitenzeitschrift La Civiltà Cattolica den Gebrauch von Verhütungsmitteln in einer Notsituation als zulässig vertrat. Der Aufsatz hatte unbeanstandet die Vorzensur durch das vatikanische Staatssekretariat passiert.
Die Kontroverse zweier Strömungen
„In Wirklichkeit betrifft die Kontroverse unter Moraltheologen von damals bis heute nicht, ob die besprochene Handlung zulässig ist, sondern die Grundlagen dieser Zulässigkeit“, so Magister.
Manche vertreten den Standpunkt, daß die Zulässigkeit eine „Ausnahme“ darstellt, der nach Einzelfallprüfung weitere hinzugefügt werden könnten, und damit das Urteil von Humanae vitae, als „in sich verwerflich“, annullieren würde.
Andere sehen im hypothetischen Verhalten kongolesischer oder bosnischer Ordensfrauen eine Handlung der legitimen Selbstverteidigung vor Gewalt, die nichts mit einer freien und gewollten sexuellen Handlung zu tun habe, bei der die Fortpflanzung ausgeschlossen werden soll. Das – und nur das – treffe die ausnahmslose Verurteilung von Humanae vitae.
Zuletzt rekonstruierte Martin Rhonheimer, Professor für Ethik und Politische Philosophie an der Päpstlichen Universität vom Heiligen Kreuz in Rom den Streit dieser beiden Strömungen in seinem Band: „Ethics of Procreation and the Defense of Human Life“, Washington, 2010, S. 133–150.
„Typisch kasuistische“ These
Laut Rhonheimer entspricht die zweite These getreuer dem kirchlichen Lehramt, während die erste These „typisch kasuistisch“ sei und eine offene Flanke gegenüber der Enzyklika Veritatis splendor von Johannes Paul II. habe.
„Kurioserweise scheinen sowohl Papst Franziskus in der fliegenden Pressekonferenz vom 17. Februar, und noch mehr Pater Lombardi im Interview mit Radio Vatikan vom 19. Februar der ersten These zuzuneigen“, so Magister.
Der eine wie der andere unterscheidet zwischen Abtreibung, einem absoluten Übel, das keine Ausnahmen zuläßt, und der Verhütung, von dem sie sagen, „es ist kein absolutes Übel“, sondern „ein kleineres Übel“ und lasse daher im „Notfall oder in besonderen Situationen“ Ausnahmen zu.
Pater Lombardi zitierte noch ein weiteres Beispiel zur Rechtfertigung der Aussage von Papst Franziskus und verwies auf das Gesprächsbuch mit Peter Seewald „Licht der Welt“ von 2010, wo es um den Gebrauch von Kondomen im Rotlichtmilieu ging, um vor ansteckenden Krankheiten zu schützen. Lombardi „überging jedoch die klärende Note der Glaubenskongregation vom 21. Dezember 2010 wegen der im Anschluß an die Buchveröffentlichung entstandene Polemik“, so Magister.
Text: Settimo Cielo/Giuseppe Nardi
Bild: Settimo Cielo