Von Andreas Becker
(Rom/Brüssel) Die jüngsten Enthüllungen der beiden flämischen Historiker Karim Schelkens und Jürgen Mettepenningen über die Existenz eines geheimen Netzwerks in der katholischen Kirche, sorgen unter Katholiken für erhebliche Irritationen. Immer häufiger wird dabei auch die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Wahl von Papst Franziskus gestellt. Ein Signal dafür, in welche innere Spannung und Verunsicherung der argentinische Papst, der so gut mit der außerkatholischen Welt umgehen kann, die katholische Kirche geführt hat.
„Wenn nur ein Teil stimmt, ist es Grund alarmiert zu sein“
„Wenn gewisse Dinge auch nur annähernd stimmen sollten, wären sie bereits Grund alarmiert zu sein“, schrieb etwa Mauro Faverzano von Corrispondenza Romana zur Vorstellung der Biographie von Kardinal Godfried Danneels durch die beiden Historiker. „Wenn sie sich dann auch noch als wahr herausstellen, verwandelt sich die Sorge in eine Tragödie. Das ist der erste Gedanken, der einem nach der Präsentation der in Belgien herausgebrachten, erschütternden Biographie über Kardinal Danneels spontan in den Sinn kommt“, so Faverzani.
„Die beiden Historiker haben zweifellos ihre Arbeit gemacht: Sie selbst haben den gewählten Zugang als ‚wissenschaftlich‘ bezeichnet und es besteht kein Grund daran zu zweifeln, hatten sie doch Zugang zu den persönlichen Archiven des Kardinals.“
Gesichert ist, daß alles 1996 auf Initiative des damaligen Erzbischofs von Mailand, des Jesuiten und Kardinals Carlo Maria Martini begann, der sich selbst als Gegenspieler Johannes Pauls II. und als „Antepapa“, als „künftiger Papst“ sah. Damals versammelte Martini gleichgesinnte Kirchenvertreter in einem Geheimzirkel mit dem erklärten Ziel, den als unerträglich empfundenen Einfluß von Joseph Kardinal Ratzinger, dem damaligen Präfekten der Glaubenskongregation zurückzudrängen. „Gleichgesinnt“ meinte die Position Kardinal Martinis, den Geist der Französischen Revolution, dem sich die Kirche seit 200 Jahren widersetzt, auch in der Kirche zu übernehmen, um damit die Kluft zwischen Welt(geist) und Kirche wieder zu schließen. Konkret geht es bei dieser Gruppenbildung nicht um irgendein Einzelthema, sondern um ein, grundlegend verschiedenes, sich ausschließendes Kirchenverständnis, das – personifiziert – auf der einen Seite Joseph Kardinal Ratzinger und auf der anderen Carlo Maria Kardinal Martini SJ zeigte. Eine kategorische Gegenposition, die keineswegs mit dem Tod Martinis 2012 endete, sondern mit der Wahl Jorge Mario Bergoglio 2013 einen unerwarteten Sieg errang.
Bistum St. Gallen bestätigt Existenz des Geheimzirkels „Gruppe Sankt Gallen“
Der Geheimzirkel nannte sich „Gruppe Sankt Gallen“ nach dem Ort ihrer Treffen, die in der gleichnamigen Schweizer Bischofsstadt stattfanden. Das ist keine Bezeichnung, die von den Autoren Schelkens und Mettepenningen stammt. So nannte sich die Gruppe selbst. Die Einladung dazu, die geheimen Treffen in St. Gallen durchzuführen, kam vom damaligen St. Galler Bischof, Ivo Fürer.
Dies wurde inzwischen, ebenso wie die Existenz des Geheimzirkels, vom Bistum Sankt Gallen in einer Presseerklärung bestätigt. Was nicht mehr geleugnet werden kann, bestätigt man, versucht gleichzeitig aber die tatsächliche Bedeutung zu verharmlosen. So spricht das „ertappte“ Bistum in seiner Erklärung von „freundschaftlichem Austausch“, zu dem sich die Kardinäle und Bischöfe unter Ausschluß der Öffentlichkeit getroffen hätten. Das Bistum legt vor allem Wert darauf, zu betonen, daß der amtierende Bischof und Nachfolger Fürers, Msgr. Markus Büchel nie Mitglied „dieses Zirkels“ war, er habe aber als damaliger Bischofsvikar am Rande Kenntnis von diesen Treffen gehabt.
Der vollständige Wortlaut der Presseerklärung des Bistums St. Gallen:
Ein privater Freundeskreis hat sich ab 1996 bis 2006 regelmässig getroffen. Angeregt hatten diese Treffen der mittlerweile verstorbene Kardinal Carlo Maria Martini und der damalige Bischof des Bistums St. Gallen, Ivo Fürer.
Weder Kardinal Carlo Maria Martini noch Bischof Ivo Fürer waren zu dieser Zeit noch Mitglied des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen CCEE, aber die Mitglieder des Freundeskreises hatten sich teils über den CCEE kennengelernt.
Befreundete Bischöfe und Kardinäle wünschten sich weiterhin einen Austausch untereinander. Selbstverständlich haben sie sich in ihren jährlichen privaten Treffen in St. Gallen über die Situation der Kirche unterhalten. Zur Sprache kam auch, insbesondere angesichts des sich stetig verschlechternden Gesundheitszustandes von Johannes Paul II. (er starb am 2. April 2005), welche Qualitäten ein neuer Papst mitbringen sollte.
Bei der Papstwahl von Joseph Ratzinger (Papst Benedikt XVI. /2005/115 Kardinäle) haben sich die Kardinäle, die sich regelmässig in St. Gallen getroffen hatten, im Präkonklave ausgetauscht. Soweit zu vernehmen war, erhielt Kardinal Bergoglio bereits in dieser Papstwahl eine bedeutende Zahl von Stimmen.
Die Wahl von Papst Franziskus 2013 (115 Kardinäle) entsprach der Zielsetzung, die in St. Gallen verfolgt wurde – heisst es in der Biografie von Kardinal Daneels.
Dies bestätigt Bischof Ivo Fürer, der aus seiner Freude an der Wahl des Argentiniers nie ein Geheimnis machte. Den St. Galler Freundeskreis aber in Zusammenhang zu bringen mit dem Rücktritt von Papst Benedikt ist falsch. Denn die Treffen fanden nach 2006 gar nicht mehr statt, der Rücktritt von Papst Benedikt war 2013.“
Damit wird letztlich, wenn auch minimierend, alles bestätigt, was angesichts der in Zusammenarbeit mit Kardinal Danneels zustandegekommenen Biographie über seine Person nicht mehr anders möglich war: die Existenz der Gruppe, die Geheimhaltung, die Papst-Frage, die Versuche, Einfluß auf das Konklave zu nehmen.
Enthüllungen zu Gruppe Sankt Gallen und Team Bergoglio von „unverdächtiger“ Seite
Bemerkenswert ist, daß diese Enthüllungen – jene von Austen Ivereigh über das Team Bergoglio (Kasper, Lehmann, Danneels und Murphy‑O’Connor) zur Beeinflussung des Konklave 2013 und jene von Schelkens/Mettepenningen über die Gruppe St. Gallen zur Beeinflussung des Konklave 2005 jeweils zugunsten von Jorge Mario Kardinal Bergoglio – nicht aus Kreisen kommen, den eine Distanz zu Papst Franziskus oder den genannten Kardinälen unterstellt werden könnte. Die Enthüllungen stammen von Autoren, die den Kardinälen, über die sie Biographien veröffentlichten und den Positionen dieser Kardinäle nahestehen.
„Das Buch von Mettepenningen und Schelkens enthüllt, wie Danneels 1999 in diesen ungewöhnlichen Kreis eintrat. Allein schon, daß so etwas behauptet wird, ist ebenso erstaunlich wie schwerwiegend. Noch schlimmer ist, daß der Betroffene es bei der Buchvorstellung in der Herz-Jesu-Basilika am Koekelberg bei Brüssel öffentlich bestätigte“, so Faverzani.
Kardinal Danneels: Unsere Gruppe „hieß Sankt Gallen, wir nannten sie aber ‚die Mafia‘ “
Danneels legte geradezu leichtsinnig und schockierend zugleich noch einen Scheit drauf: „Der modische Name war ‚Gruppe von Sankt Gallen‘, wir aber nannten sie ‚die Mafia‘“. Daß Mettepenningen über die Mikrophone von Radio 1 in Belgien schnell anmerkte, die Gruppe habe sich „liebevoll“ die „Mafia“ genannt, schwächt die Sache nicht ab.
Was Kardinal Martini zusammen mit gleichgesinnten Kardinälen und Bischöfen in der Kirche aufbaute, war ein Geheimzirkel und damit eine mafia-ähnliche Struktur. Das Stillschweigen, das die „Brüder“ hielten, war so eisern, daß selbst innerkirchliche Ermittlungen nichts erbrachten. Papst Johannes Paul II. hatte, da Gerüchte über die Existenz „seltsamer Treffen“ oder gar „eines geheimen Netzwerks“ in Umlauf waren und bis in den Vatikan drangen, Kardinal Ruini, seinen Kardinalvikar von Rom mit Erhebungen beauftragt. Ruini scheiterte an der „Omertà “, der Geheimhaltung, und mußte mit leeren Händen nach Rom zurückkehren. Das hatte zur Folge, daß man im Vatikan die Gerüchte als unbewiesen ad acta legte.
Rekrutierungsfeld COMECE – Wie konnte Minderheitenposition im Konklave eine Mehrheit finden?
„Mitglied dieser ‚Mafia‘“, so Faverzani, „war der niederländische Bischof Adriaan van Luyn, unter anderem Vorsitzender der COMECE, der Bischofskonferenz der Europäischen Union.“ Sein Nachfolger in diesem Amt ist seit 2012 Kardinal Reinhard Marx. Nur ein Teil der Mitglieder des Geheimzirkels ist bekannt, darunter die Kardinäle Kasper, Lehmann, Hume, Silvestrini, Danneels, Martini, Bischof Fürer und van Luyn. Die Mitgliedschaft des Großteils ist weiterhin unbekannt. Man weiß lediglich, daß sich darunter auch „österreichische und französische“ Bischöfe finden.
Die zentrale Frage, die sich viele derzeit stellen, ist: Wie konnte die Minderheitenposition, die der Geheimzirkel um den Jesuiten Martini vertrat, im Konklave 2013 zu einer Zweidrittelmehrheit für Kardinal Jorge Mario Bergoglio, den Kandidaten der „Gruppe Sankt Gallen“ alias „Team Bergoglio“ werden? Da es nur acht Jahre zuvor im Konklave eine satte Zweidrittelmehrheit für Joseph Kardinal Ratzinger gegeben hatte, ist ein grundlegender Richtungswandel einer Mehrheit der Kardinäle, von denen zudem mehr als die Hälfte erst von Papst Benedikt XVI. ernannt worden war, auszuschließen.
Martinis Rücktrittsforderung an Benedikt XVI. – Wurde gegen Wahlordnung des Konklave verstoßen?
Das Bistum St. Gallen bestätigte, daß die Treffen bis 2006 in der Bischofsstadt stattfanden. Daß sich die Gruppe in jenem Jahr, nach dem gescheiterten Versuch, die Wahl von Papst Benedikt XVI. zu verhindern, aufgelöst hätte, sollte nicht daraus geschlossen werden. Der Fortbestand des Geheimzirkels wird durch Austen Ivereighs Biographie über Kardinal Murphy‑O’Connor bestätigt, die bereits im November 2014 erschienen ist. Ivereigh war es, der mit der von ihm als „Team Bergoglio“ bezeichneten Gruppe von vier Kardinälen gewissermaßen die Enthüllung der Gruppe Sankt Gallen vorwegnahm (siehe Organisierten Kasper, Lehmann, Danneels, Murphy‑O‘Connor eine verbotene Kampagne zur Wahl Bergoglios?).
Kardinal Martini starb im August 2012. Laut dem progressiven Jesuiten Silvano Fausti, forderte Martini nur zwei Monate vor seinem Tod Papst Benedikt XVI. bei ihrer letzten persönlichen Begegnung unumwunden zum Rücktritt auf (siehe Als Martini von Benedikt XVI. den Rücktritt forderte). Ein Machtkampf um die Kirche von solcher Bedeutung und Härte, daß er bis in den Tod reichte. Ein Machtkampf, der Martinis Tod überdauerte: Erstaunlicherweise trat Benedikt XVI. tatsächlich acht Monate später für die Öffentlichkeit völlig überraschend zurück und machte damit den Weg für das Pontifikat von Kardinal Jorge Mario Bergoglio frei, etwas, was sich 2005 nicht einmal Kardinal Martini erhofft hatte. Damals war Martinis Ordensmitbruder aus Argentinien als Kandidat aufgeboten worden, um mit 40 Stimmen von 117 Wahlberechtigten, knapp aber machbar, die Wahl von Kardinal Ratzinger zu blockieren. Die Möglichkeit, Bergoglio zum Papst machen zu können, hielt damals niemand aus Martinis Kreis für realistisch.
Nicht zu vergessen ist auch der aggressive Tonfall, mit dem Kardinal Walter Kasper nach Benedikts Rücktritt im Vorkonklave „warnte“, sich in die Papstwahl einzumischen. Kasper war zur gleichen Zeit, was nachträglich seine Nervosität erklärt, frenetisch damit beschäftigt, einer der Architekten des Pontifikats Franziskus zu werden (siehe Die Warnung an Benedikt XVI. von einem … Kasper – Anti-Ratzinger-Pontifikat in Planung).
Wo tagte der Geheimzirkel seit 2006? Welchen Einfluß hatte er auf den unerwarteten Rücktritt von Benedikt XVI.? Wie organisierte er die Wahl von Papst Franziskus und kam es dabei zu Verstößen gegen die Rechtsordnung der Kirche und die Wahlordnung des Konklave? Letzteres muß nicht sein, ist angesichts der gezielten Geheimhaltung einer Fraktionsbildung in der Kirche auf höchster Ebene, deren Mitglieder sich selbst, ob scherzhaft oder nicht, als „Mafia“ bezeichneten, aber alles andere denn ausgeschlossen.
Text: Andreas Becker
Bild: MiL/katholisches.info (Montage)