(Rom) Es war der 16. August 1977, fast genau ein Jahr bevor er als Johannes Paul I. zum Papst gewählt werden sollte. Am Gedenktag des heiligen Rochus hielt Patriarch Albino Kardinal Luciani von Venedig eine Predigt und bezeichnete den damals gerade erst in sein Amt als Erzbischof von München-Freising eingeführten und zum Kardinal erhobenen Joseph Ratzinger als „wahren Propheten“. Er nannte den späteren Papst Benedikt XVI. sogar als einziges Beispiel für einen wirklichen Propheten, das er den „falschen Propheten“ entgegensetzte.
Zunächst sprach der Patriarch über den Propheten Elija und den Wunsch von Katholiken, auch heute, nach kraftvollen Propheten. Luciani zitierte den Apostel Paulus, Prophetien nicht zu verachten (1 Tes 5,20), sich aber vor jenen „Propheten“ zu hüten, die das Evangelium Jesu Christi umstürzen wollen: „Doch es gibt kein anderes Evangelium, es gibt nur einige Leute, die euch verwirren und die das Evangelium Christi verfälschen wollen. Wer euch aber ein anderes Evangelium verkündigt, als wir euch verkündigt haben, der sei verflucht, auch wenn wir selbst es wären oder ein Engel vom Himmel.“ (Gal 1,7–8).
Wörtlich sagte Kardinal Luciani weiter:
„Noch vor dem heiligen Paulus hatte schon der Herr selbst gewarnt: ‚Viele falsche Propheten werden auftreten und sie werden viele irreführen‘ (Mt 24,11). Schon im Alten Testament beklagte Gott: ‚Ich habe diese Propheten nicht ausgesandt, dennoch laufen sie; ich habe nicht zu ihnen gesprochen, dennoch weissagen sie‘ (Jer 23,21). Die Bibel erinnert auch an die Propheten von Baal zur gottlosen Zeit von Isebel und Jehu (vgl. 1 Kön 18; 2 Kön 10,19–25); sie erinnert auch an die Haus- und Hofpropheten, die vor allem besorgt waren, so zu prophezeien, daß sie den Königen und den Großen gefallen anstatt Gott (1 Kön 22).
Ich glaub, daraus schließen zu können, daß es Prophetie gibt; daß man von manchen Propheten viel lernen kann; daß man aber, wenn man nicht zu unterscheiden weiß, auch große Reinfälle erleben kann.
Vor wenigen Tagen habe ich Kardinal Ratzinger, den neuen Erzbischof von München, beglückwünscht: in einem katholischen Deutschland, das er selbst als zum Teil von einem antirömischen und antipäpstlichen Komplex befallen bedauert, hatte er den Mut, öffentlich zu verkünden, daß ‚der Herr dort zu suchen ist, wo Petrus ist‘.
Andere scheinen nicht Propheten, sondern Schmuggler zu sein: sie nützen den Posten aus, den sie besetzen, um das als Lehre der Kirche auszugeben, was in Wirklichkeit ihre persönliche Meinung ist oder eine von abweichenden und vom Lehramt der Kirche mißbilligten Ideologien entstellte Lehre. Laut ihrem Reden und Schreiben ist die Auferstehung Jesu eine reine Erfindung seiner Jünger, die, nachdem sie nach der Kreuzigung ihre erste Orientierungslosigkeit überwunden hatten, sich gesagt hätten: ‚Er ist tot? Macht nichts, wir führen einfach sein Werk fort, als würde er noch unter uns leben‘. Also Auferstehung ja, aber nur im Geist und im Willen der Jünger. Sie schreiben auch: die Ohren- oder Einzelbeichte ist nicht notwendig: es genügt das allgemeine, gemeinsame Schuldbekenntnis; man bereut, empfängt die Generalabsolution und alles ist in Ordnung; der Rest sei erst von mittelalterlichen Mönchen eingeführt worden. Die Gelegenheit zur Sünde zu meiden und die voreheliche Keuschheit der Verlobten seien – laut ihnen – Übertreibungen, denn in Wirklichkeit sei jeder sexuelle Wunsch und jede sexuelle Lust – innerhalb oder außerhalb der Ehe – gut; die Kirche aber wir beschuldigt, neben vielem anderen, auch ‚sexuelle Repression‘ auszuüben. Arme Kirche!
Wie das alles mit einem Christus in Einklang zu bringen sein soll, der die Seinen dazu führte, gegen den Strom zu leben, sie zu großen Anstrengungen aufforderte, zu Verzicht, Askese und Kreuz, ist ein Rätsel. Ebenfalls ist es ein Rätsel, wie sie die Worte Jesu erklären wollen: „Keiner kann der Diener zweier Herren sein“ (Mt 6.24) und „jeder, der eine Frau lüstern anschaut, hat im Herzen bereits Ehebruch mit ihr getrieben“ (Mt 5,27). Eine andere rätselhafte Sache ist, daß sie in der Schule und in der Katechese alles unterdrücken, was zum Nacheifern anspornt, was herausfordert, was anfeuert und ermutigt. Alle sollen gleich sein, kein junger Mensch soll sich anderen überlegen fühlen. Nun, den Hochmut zu bremsen, ist eine gute und schöne Sache. Es hat aber nichts mit Hochmut zu tun, wenn jemand versucht, zu reifen, voranzukommen; Hochmut ist, wenn jemand maßlos ist und andere mit Füßen tritt. […]
Ein anderes „Rätsel“ ist es, daß diese Propheten so denken, entscheiden und programmieren, als wären alle Menschen von Natur aus gut, alle nur gut und alle ehrlich, fleißige Arbeiter, die die Anstrengung lieben und alle unfähig zu Hinterlist und Betrug. Das ist der Optimismus von Rousseau und Victor Hugo. Letzterer schrieb: ‚Jede Schule, die öffnet, bedeutet ein Gefängnis, das geschlossen wird‘. Wenn er heute leben würde, könnte Victor Hugo ein Vielfaches an Schulen sehen, aber auch an Gefängnissen. […] Die Straße, die tägliche Erfahrung und die Bibel sagen: Seien wir Optimisten, der Mensch bewahrt einen gütigen Grundstock, aber verschließen wir nicht die Augen, leugnen wir nicht, daß auf ihm auch das Erbe der Erbsünde lastet: die Schule nützt, aber nur unter der Voraussetzung, daß sie mit der Ehrfurcht vor Gott gekoppelt ist.
Apropos Gott: viele heutige „Propheten“ schreiben und reden sehr häufig vom „Wort Gottes“, mit dem man sich beschäftigen solle. Sehr gut, doch mehr noch muß man vom „Gesetz Gottes“ sprechen, bzw. von den zu haltenden Zehn Geboten (Ex 20.147).
Viele halten den Dekalog, obwohl sie die Bibel lesen, für überholt, obwohl gerade er – würden ihn alle beachten – allein imstande wäre, sowohl die Individuen als auch die Gesellschaft gut zu machen. Vom Dekalog hat Jesus gesagt: ‚Amen, das sage ich euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht ein Buchstabe des Gesetzes vergehen‘ (Mt 5,18). Das ist wirklich ein Leichtsinn, die Bibel zu lesen, indem man streicht oder übergeht, was Jesus feierlich bekräftigt hat.
Abschließend kann gesagt werden: Haben wir ruhig Vertrauen in die Propheten, aber den echten. Und sollte der Herr auch uns diese Berufung schenken, erinnern wir uns daran, daß der Beruf des Propheten schwer ist. Besonders für den Fall, daß wir im Namen Gottes andere anklagen wollten oder sollten, müssen wir zweier Dinge sicher sein: erstens, daß wir wirklich einen Auftrag von Gott haben; zweitens, daß wir selbst ausreichend in Ordnung sind. Jesus hat gesagt: ‚Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?‘ (Mt 7,3). Der heilige Jakobus hat geschrieben: ‚Nur einer ist der Gesetzgeber und Richter: er, der die Macht hat, zu retten und zu verderben. Wer aber bist du, dass du über deinen Nächsten richtest?‘ (Jak 4,12). Sich an die eigene Brust zu klopfen ist ein gutes Zeichen der Reue. Auf die Brust anderer zu klopfen, ist eine viel heiklere Sache: Es kann ein Zeichen von Prophetie sein, von Liebe, Barmherzigkeit und Eifer, aber auch von Anmaßung. […]
An dieser Stelle ist es gut, daran zu erinnern, daß der heilige Paulus gesagt hat: die Prophetie ist gut, gut sind auch die anderen Charismen, doch über allen diesen Dingen steht die Gottes- und die Nächstenliebe (1 Kor 13). Das ist vor allem das, was die Heiligen Rochus und Pius X. getan haben.
Albino Kardinal Luciani, Predigt am Gedenktag des heiligen Rochus, 16. August 1977, abgedruckt in Opera Omnia – Albino Luciani, Giovanni Paolo I, Bd. 8, S. 193ff
Text/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Il Timone