Käßmann’s Erzählungen (I)


Schnitt von Lucas Cranach zu den Abkanzeleien vom neuen Weltenrichter Martin Luther
„Jetzt bren­nen sie in der ewi­gen Höl­le!“ Schnitt von Lucas Cra­nach zu den Abkan­zelei­en vom neu­en Wel­ten­rich­ter Mar­tin Luther

Das Refor­ma­ti­ons­ju­bi­lä­um 2017 wirft sei­ne Schat­ten vor­aus. Aber auch die Schat­ten der luthe­ri­schen Ver­gan­gen­heit wir­ken nach. Denn die star­ken Licht­ke­gel auf den legen­di­schen Luther kön­nen die Schat­ten­sei­ten des Refor­ma­tors nicht wegretouschieren.

Anzei­ge

Ein Gast­bei­trag von Hubert Hecker

Im Lichte der „Toleranz“ erscheint Luther als Mensch der Intoleranz

Die kirch­li­chen Gemein­schaf­ten der Refor­ma­ti­on wol­len in Vor­be­rei­tung auf das Luther-Jubi­lä­um 2017 ihrem Refor­ma­tor ein zeit(geist)gemäßes Gewand anle­gen. Als ein Losungs­wort für die Luther­de­ka­de haben sie „Tole­ranz“ gewählt. Doch im Lich­te die­ses Begriffs der Auf­klä­rung erweist sich, dass Mar­tin Luther in viel­fa­cher Hin­sicht ein Mensch der Into­le­ranz war:

Bekannt ist Mar­tin Luthers Into­le­ranz gegen die damals auf­stän­di­gen Bau­ern. In sei­ner Schrift gegen die Bau­ern, die ab 1523 in wehr­haf­ten Hau­fen ihre nicht unbe­rech­tig­ten For­de­run­gen durch­set­zen woll­ten, lehn­te Luther aus­drück­lich Ver­nunft­ge­spräch und Barm­her­zig­keit ab: „Mit der Faust soll man ant­wor­ten, dass ihnen das Blut aus der Nase läuft“. Die Für­sten­hee­re soll­ten die auf­rüh­re­ri­schen Bau­ern „wie tol­le Hun­de tot­schla­gen“. Bei der histo­ri­schen Ein­ord­nung die­ser bar­ba­ri­schen Into­le­ranz Luthers hilft es wenig, dar­auf hin­zu­wei­sen, dass Tho­mas Münt­zer als ideo­lo­gi­scher Anfüh­rer der Bau­ern in sei­nen gna­den­lo­sen Ver­nich­tungs­im­pe­ra­ti­ven noch radi­ka­ler agi­tier­te: „Man soll auch die gott­lo­sen Regen­ten töten, son­der­lich Pfaf­fen und Mön­che, die uns das Hei­li­ge Evan­ge­li­um Ket­ze­rei schel­ten. Die Gott­lo­sen haben kein Recht zu leben.“

Zweifelhafte Relativierung von Luthers Intoleranz

Luther wird viel­fach zugu­te gehal­ten, dass er es eigent­lich und anfangs immer gut gemeint hät­te. Er hät­te sich dann aber durch die har­ten Reak­tio­nen der Gegen­sei­te zu radi­ka­len Reden hin­rei­ßen las­sen – nicht zu ent­schul­di­gen, aber zu ver­ste­hen. Auch im Fall der Bau­ern­krie­ge habe Luther zunächst die Sache der Bau­ern ver­tei­digt und gerecht genannt, sei dann aber durch die Schmäh­reden des „Erz­teu­fels“ Münt­zer auf die Sei­te der Für­sten gewechselt.

Nach die­sem Muster wer­den auch die ande­ren Radi­ka­li­sie­run­gen Luthers rela­ti­viert und ins­be­son­de­re die gesam­te Kir­chen­spal­tung erklärt: Luther habe doch anfangs nur eine Reform der Kir­che gewollt. Als dann die Papst­kir­che die­se Refor­men abge­lehnt hät­te, sei er gewis­ser­ma­ßen zu der Abspal­tung sei­ner Anhän­ger-Gemein­den gezwun­gen gewe­sen. Damit wird die Schuld an der Kir­chen­spal­tung der angeb­lich reform­blockie­ren­den Papst­kir­che zugeschoben.

Verschiebung des Lutherjahrs auf 2020!

Die­se durch­sich­ti­ge Luther-Recht­fer­ti­gung ist nicht über­zeu­gend. Luther selbst wür­de gegen die­sen Ansatz pro­te­stie­ren, inso­fern ihm damit die vol­le Ver­ant­wor­tung für jede sei­ner Schrit­te und Schrif­ten abge­pro­chen wird. Zum andern ist es ein gül­ti­ges Inter­pre­ta­ti­ons­ge­setz, dass die jeweils letz­te­ren Ansich­ten und Ein­schät­zun­gen in der Bio­gra­fie einer öffent­li­chen Lehr- und Füh­rer-Per­son als die rei­fen Wer­ke zu gel­ten haben – und nicht etwa unaus­ge­go­re­ne Früh­schrif­ten oder Jugend­sün­den. In die­sem Sin­ne sind die drei Schrif­ten zur „refor­ma­to­ri­schen Wen­de“ von 1520 Luthers maß­geb­li­che Wer­ke, die die Abspal­tung und Eigen­stän­dig­keit der refor­ma­to­ri­schen Kir­chen­ge­mein­schaf­ten begrün­den. Somit ent­hal­ten nicht die Reform­be­mü­hun­gen in den 95 The­sen von 1517 die Sub­stanz von Luthers aus­ge­reif­ter Theo­lo­gie, son­dern erst die Kon­fron­ta­ti­ons- und Abgren­zungs­schrif­ten von 1520 sind als Grün­dungs­tex­te der Refor­ma­ti­on zu betrach­ten. Das Luther­jahr zum Refor­ma­ti­ons­ab­spal­tung soll­te also auf 2020 ver­scho­ben werden.

Luther poltert gegen Papst und Papisten, Kardinäle und Kirche

In den drei refor­ma­to­ri­schen Wen­de-Wer­ken läuft Mar­tin Luther zur Hoch­form von Into­le­ranz gegen Papst und Papi­sten, Kar­di­nä­le und Kir­che auf. Er nennt den Papst, den er in frü­he­ren Schrif­ten noch mit „Bru­der“ ange­re­det hat­te, nun einen „gott­lo­sen Men­schen“, „Anti-Chri­sten“ oder „Erz­teu­fel“, das Papst­tum die „wider­christ­li­che Tyran­nei“. Die römisch-katho­li­sche Kir­che bezeich­net er als „Kloa­ke, in die ihr den Hl. Geist ein­sperrt“. Die­se Papst­kir­che sei „vom Teu­fel gestif­tet“, in ihr herrsch­ten „Wöl­fe, Räu­ber, geist­li­che Tyran­nen“, eine „Herr­schaft des Anti­chri­sten“, die schlim­mer sei als „Sodo­ma und Gomor­rha“. Luther beschimpft das katho­li­sche Kir­chen­ver­ständ­nis als „Ter­ror der gott­lo­sen Papi­sten“, wenn sie die geist­li­che Dimen­si­on an das insti­tu­tio­nel­le Gefü­ge von Ämtern, For­men und Per­so­nen bin­den. Kir­che ist für Luther allein die unsicht­ba­re, geist­li­che Gemein­schaft der Gläu­bi­gen. Wenn heu­te die Pro­te­stan­ten dar­um bet­teln, dass ihre Gemein­schaf­ten doch auch als gleich­wer­ti­ge Kir­chen von Rom aner­kannt wer­den soll­ten, so ist ihnen glei­cher­ma­ßen mit Kar­di­nal Ratz­in­ger und Mar­tin Luther zu ent­geg­nen: Die frü­hen Pro­te­stan­ten woll­ten auf kei­nen Fall so Kir­che sein wie die römisch-katho­li­sche und erst recht nicht von ihr aner­kannt sein.

Gift und Galle gegen die Wiedertäufer

Auch gegen die Wie­der­täu­fer stieß Luther sei­ne Gift-Tira­den an Into­le­ranz aus. Für ihn waren die Täu­fer von einem „mör­de­ri­schen, auf­rüh­re­ri­schen, rach­gie­ri­gen Geist, dem der Odem nach dem Schwert stinkt“. Die infol­ge der zuneh­men­den Ver­fol­gung geheim abge­hal­te­nen Zusam­men­künf­te der Täu­fer waren für Luther „ein gewiss Zei­chen des Teu­fels“. Auf­rüh­re­ri­sche Wie­der­täu­fer soll­ten nach Luther und Melan­ch­ton mit dem Tode bestraft werden.

„Tod den Hexen und Satansbräuten!“

In der früh­neu­zeit­li­chen Hexen­ver­fol­gung besteht ein Höhe­punkt von Into­le­ranz. 1532 wur­de in der „Pein­li­chen Gerichts­ord­nung“ von Kai­ser Karl V. fest­ge­hal­ten: Wenn Hexen Scha­dens­zau­ber aus­führ­ten, sol­len sie durch Ver­bren­nen bestraft wer­den. Luther betei­lig­te sich an der Hexen­hatz, der im Deut­schen Reich bis 1650 mehr als 30.000 Män­ner und Frau­en zum Opfer fie­len – etwa die Hälf­te davon in pro­te­stan­ti­schen Gebie­ten. Luther bekräf­tig­te: „Es ist ein über­aus gerech­tes Gesetz, dass die Zau­be­rin­nen getö­tet wer­den, denn sie rich­ten viel Scha­den an.“ „Die Zau­be­rin­nen sol­len getö­tet wer­den, weil sie Die­be sind, Ehe­bre­cher, Räu­ber, Mör­der. Sie sol­len getö­tet wer­den, auch weil sie Umgang mit dem Satan haben.“

„Die Juden sind Pestilenz und alles Unglück“

In drei Spät­schrif­ten von 1538 bis 1544 fasst Luther alle Vor­ur­tei­le, Gehäs­sig­kei­ten und sozi­al­nei­di­sche Gemein­hei­ten gegen die Juden zusam­men: „Ein solch ver­zwei­fel­tes, durch­bö­stes, durch­gif­te­tes, durch­teu­fel­tes Ding ist’s um die­se Juden, so die­se 1400 Jah­re unse­re Pla­ge, Pesti­lenz und alles Unglück gewe­sen sind und noch sind. Sum­ma, wir haben rech­te Teu­fel an ihnen. Wenn ich könn­te, wo wür­de ich ihn [den Juden] nie­der­strecken und in mei­nem Zorn mit dem Schwert durch­boh­ren. Jawohl, sie hal­ten uns [Chri­sten] in unse­rem eige­nen Land gefan­gen, sie las­sen uns arbei­ten in Nasen­schweiß, Geld und Gut gewin­nen, sit­zen sie die­weil hin­ter dem Ofen, fau­len­zen, pom­pen und bra­ten Bir­nen, fres­sen, sauf­fen, leben sanft und wohl von unserm erar­bei­te­ten Gut, haben uns und unse­re Güter gefan­gen durch ihren ver­fluch­ten Wucher, spot­ten dazu und spei­en uns an, das wir arbei­ten und sie fau­le Jun­cker las­sen sein … sind also unse­re Her­ren, wir ihre Knechte.“

Dar­auf­hin ent­wickelt Luther Emp­feh­lun­gen von bren­nen­der Intoleranz:
„Dass man ihre Syn­ago­gen mit Feu­er anstecke und, was nicht ver­bren­nen will, mit Erden über­häu­fe und beschütte…
Dass man auch ihre Häu­ser des glei­chen zer­bre­che und zer­stö­re… Dafür mag man sie etwa unter ein Dach oder Stall tun, wie die Zigeu­ner, auf dass sie wis­sen, sie sei­en nicht Her­ren in unse­rem Lande.…
Dass man ihnen den Wucher ver­bie­te und alle Bar­schaft und Klein­ode an Sil­ber und Gold neh­me und verwahre.…
Dass man den jun­gen, star­ken Jüden und Jüdin in die Hand gebe Fle­gel, Axt, Karst, Spa­ten, Rocken, Spin­del und las­se sie ihr Brot ver­die­nen im Schweiß der Nasen.“

Auch die Türken sind Teufelsdiener – außer sie kämpfen gegen den Papst

In sei­nen bei­den „Tür­ken­schrif­ten“ von 1529 und 1530 stellt Luther fest: „Der Tür­ke ist ein Die­ner des Teu­fels, der nicht allein Land und Leu­te ver­dirbt mit dem Schwert, son­dern auch den christ­li­chen Glau­ben ver­wü­stet.“ Die­se Ver­dam­mung der Tür­ken wird nur gemil­dert, wenn Luther den Papst dis­kre­di­tie­ren kann: Die Nie­der­la­gen der christ­li­chen Hee­re in Ungarn sei ein Zei­chen dafür, dass Gott mit „dem Tür­ken“ die sün­di­ge Chri­sten­heit und ins­be­son­de­re Papst und Papi­sten bestra­fe. Durch die Schrif­ten des mitt­le­ren und des alten Luther zieht sich das wie ein roter Faden: Papst, Jude und Tür­ke wer­den zu den Fein­den der Chri­stus-Bot­schaft schlecht­hin, ja zum Werk­zeug des Teu­fels und zum Anti­christ sti­li­siert. Der Kampf gegen Jude, Tür­ke, Papst und alle Ver­leug­ner des Erlö­sungs­wer­kes Chri­sti allein aus Gna­de ist daher als apo­ka­lyp­ti­scher End­kampf zu betrachten.

Nach die­ser sicher nicht voll­stän­di­gen Über­sicht – erwähnt wird in einem Zitat Luthers Aus­gren­zung gegen Zigeu­ner – kann man nicht umhin, in Mar­tin Luther einen zeit­ge­nös­si­schen Pro­to­typ der Into­le­ranz zu erken­nen. War­um um alles in der Welt will der Rat der EKD ihren Front­mann der Refor­ma­ti­ons­grün­dung unbe­dingt mit der Auf­klä­rer­tu­gend „Tole­ranz“ zusam­men­brin­gen, mit der Luther abso­lut nichts am Hut hatte?

Dazu machen die EKD-Ver­ant­wort­li­chen eini­ge argu­men­ta­ti­ve Ver­bie­gun­gen, um die Into­le­ranz Luthers mit der heu­te gefor­der­ten Auf­klä­rungs­to­le­ranz irgend­wie zusam­men­zu­brin­gen, was natür­lich nicht gelin­gen kann.

Heutige Toleranz als Zeichen gegen Luthers Intoleranz

Die bru­talst­mög­li­che Metho­de, mit den „Schat­ten der Refor­ma­ti­on“ (EKD-Bro­schü­re zum Tole­ranz-Jahr) umzu­ge­hen, ist der dia­lek­tisch-anti­the­ti­sche Ansatz: „Luther war gegen die Tür­ken – also brau­chen wir muti­ge Zei­chen gegen Frem­den­feind­lich­keit. Luther koch­te nicht selbst – also brau­chen wir mehr Geschlech­ter­ge­rech­tig­keit“ (FAZ-Kom­men­tar zum 29. 3. 2013). Die­ses Vor­ge­hen nimmt die Tat­sa­che ernst, dass Luthers Into­le­ranz mit der heu­ti­gen Norm von Tole­ranz in jeder Hin­sicht unver­ein­bar ist. Wenn die EKD die Tole­ranz der Auf­klä­rung zur neu­en Super-Norm für die pro­te­stan­ti­schen Gemein­schaf­ten erklärt, muss man Luther und sei­ner eska­lie­ren­de Into­le­ranz kon­se­quen­ter­wei­se in Anti­the­se stel­len und die Ver­bin­dung zu ihm abschnei­den. Es stellt sich dann aber die Fra­ge: Wie­so dann noch ein Lutherjahr?

Lutherische Intoleranz bis 1945, danach antilutherische Toleranz?

Einen ähn­li­chen Ansatz ver­folgt die Luther-Bot­schaf­te­rin der EKD, Frau Käß­mann, bezüg­lich Luthers Hass-Schrif­ten gegen die Juden. Der spä­te Luther sei ein erschrecken­des Bei­spiel (un)christlicher Juden­feind­schaft gewe­sen. Damit hät­te er die pro­te­stan­ti­schen Gemein­schaf­ten auf einen „ent­setz­li­chen Irr­weg“ geführt – bis hin zum insti­tu­tio­nel­len Ver­sa­gen der Evan­ge­li­schen Kir­chen in der Nazi-Zeit. Aber die bedrücken­de Geschich­te des christ­li­chen Anti­ju­da­is­mus habe nach 1945 „eine Lern­ge­schich­te im Ver­ständ­nis des Juden­tums frei­ge­setzt“. Auch die­ser Argu­men­ta­ti­on liegt die anti­the­ti­sche Maxi­me zugrun­de: Luthers schlech­tes Bei­spiel an Juden­hass und des­sen Wirk­ge­schich­te über 450 Jah­re gebe uns Anlass und Ansporn, genau das Gegen­teil von Luthers Into­le­ranz zur all­ge­mei­nen Norm zu erhe­ben. Die Luther-Bot­schaf­te­rin geht offen­bar nach der Regel vor, dass nichts so schlecht ist, dass es nicht noch als schlech­tes Bei­spiel die­nen könnte.

Aller­dings ver­steckt Frau Käß­mann dann doch ein biss­chen Ver­ständ­nis für Luthers Anti­ju­da­is­mus in die Ein­lei­tungs­pas­sa­ge ihres Luther­tex­tes: Über die Dar­stel­lung der Juden in der Mat­thä­us-Pas­si­on von J. S. Bach kommt sie zu dem Urteil: „Die­se Pas­sa­ge (aus dem Mat­thä­us­evan­ge­li­um) legt mit ande­ren aus dem Neu­en Testa­ment den bibli­schen Grund­stein für die Schuld­ge­schich­te der Kir­chen mit den Juden.“ Wenn also in den bibli­schen Schrif­ten die Basis-Schuld für histo­ri­schen Anti­ju­da­is­mus lie­gen soll­te, dann wären Luthers anti­jü­di­schen Aus­fäl­le eher ver­ständ­lich, inso­fern sie zumin­dest ansatz­wei­se der Schrift ent­sprä­chen. Bei die­ser Kri­tik an den Schrif­ten des Neu­en Testa­ments ist es nur kon­se­quent, wenn sich die EKD und ins­be­son­de­re Frau Käß­mann für eine poli­tisch kor­rek­te Neu­schrift und einen zeit­gei­sti­gen Neu­sprech der Bibel ein­set­zen. Auf den Gedan­ken, dass Luther die Bibel bezüg­lich der Rol­le von Juden falsch ver­stan­den haben könn­te, kommt Frau Käß­mann natür­lich nicht.

Toleranz als prinzipienloser Opportunismus?

Ange­sichts sol­cher Aus­füh­run­gen fragt man frap­piert, ob man die Luther-Bot­schaf­te­rin mehr für ihre radi­ka­le Ehr­lich­keit bis hin zur evan­ge­li­schen Selbst­ver­leug­nung bewun­dern oder ihre Posi­tio­nen eher als prin­zi­pi­en­lo­sen Oppor­tu­nis­mus ver­ach­ten soll­te. (Par­don, im Zei­chen der Tole­ranz soll­te man Hal­tun­gen weder bewun­dern noch ver­ach­ten, son­dern gleich­mä­ßig und gleich­gül­tig Dul­dungs- und Respekt-Tole­ranz für jeg­li­che Posi­tio­nen zeigen.)

Die Intoleranz Luthers soll angeblich ein „erhebliches Toleranzpotential“ enthalten

Wäh­rend Frau Käß­mann den Umschwung zur Tole­ranz in den evan­ge­li­schen Kir­chen­ge­mein­schaf­ten erst vor 60 Jah­ren ansetzt, sehen ande­re Inter­pre­ten den Lern­pro­zess der Pro­te­stan­ten direkt nach Luther begin­nen. Sie wol­len eine per­ma­nen­te pro­te­stan­ti­sche Lern­ge­schich­te seit 500 Jah­ren erken­nen – von Luthers Into­le­ranz anfan­gend bis zum heu­ti­gen Zeit­geist der Duld­sam­keit. Und der ehe­ma­li­ge Prä­ses Niko­laus Schnei­der mein­te, dass die Lern­ge­schich­te zur Tole­ranz in der Gegen­wart noch gar nicht abge­schlos­sen sei.
Nahe­lie­gend bei Luthers into­le­ran­ter Hal­tung ist die Hypo­the­se, dass die­se Ent­wick­lungs­ge­schich­te zur Duld­sam­keit trotz oder gegen Mar­tin Luther abge­lau­fen sein müss­te – mit maß­geb­li­chen Impul­sen von außer­halb. Auch in die­sem Fall fragt man sich aller­dings, war­um man dann noch ein Luther-Jahr fei­ern sollte.

Den freiheitsunfähigen Menschen sollte die Obrigkeit nachhelfen

Um sein Luther­jahr doch noch zu ret­ten, bevor­zug­te Prä­ses Schnei­der eine wei­te­re Erklä­rungs­va­ri­an­te, näm­lich dass Luther und sei­ne Auf­fas­sun­gen ins­ge­heim doch die euro­päi­sche Tole­ranz­ge­schich­te ange­sto­ßen hät­te: „Der refor­ma­to­ri­sche Grund­ge­dan­ke, dass es in Gewis­sens- und Glau­bens­fra­gen kei­ne Gewalt geben dür­fe, son­dern nur das über­zeu­gen­de Wort“, tra­ge ein „erheb­li­ches Tole­ranz­po­ten­ti­al“ in sich, das aber nicht unmit­tel­bar zu einer Tole­ranz­kul­tur den Kir­chen der Refor­ma­ti­on geführt habe.
War­um wohl, Herr Schneider?
Zum einen war die Frei­heit von Zwang in Glau­bens­din­gen durch­aus kein refor­ma­to­ri­sches Novum, son­dern schon lan­ge vor­her ein Grund­ge­dan­ke der Scho­la­stik. Zum andern unter­höhl­te Luther den Grund­satz der Frei­wil­lig­keit von Glau­bens­ent­schei­dun­gen, indem er den erb­sünd­lich durch­bö­sten Men­schen grund­sätz­lich den frei­en Wil­len absprach. Dazu kam die Rol­le des abso­lu­ti­sti­schen Staa­tes, die Luther der fürst­li­che Obrig­keit zusprach. Sie bestärk­te die theo­kra­ti­sche Kon­zep­ti­on, nach der der gott­ver­ant­wort­li­che Fürst die Reli­gi­on sei­ner Unter­ta­nen bestim­men und die irdi­sche (Kir­chen-) Heils­ord­nung regu­lie­ren soll­te, um ange­sichts der tota­len mensch­li­chen Ver­derbt­heit die Sor­ge für das See­len­heil der christ­li­chen Unter­ta­nen zu gewährleisten.

Eigen-Toleranz zu widersprüchlichen Luther-Interpretationen

Frau Käß­mann ist selbst all­sei­tig tole­rant – auch gegen­über ihren eige­nen dif­fe­ren­ten Ansich­ten. Obwohl sie den evan­ge­li­schen Kir­chen­ge­mein­schaf­ten seit Luther eine 450jährige Into­le­ranz­ge­schich­te beschei­nigt, kann sie wort­reich auch das Gegen­teil ver­tei­di­gen: Luthers Rede von Frei­heit habe maß­geb­lich die neu­zeit­li­che Lern­ge­schich­te zur Tole­ranz und Frei­heit beein­flusst, wenn nicht gar initi­iert. Bei der Eröff­nungs­pre­digt zum Tole­ranz­jahr des Luther­tums sag­te sie in Worms am 31. 10. 2012:
„Luthers Frei­heits­be­griff hat in der Tat zu man­cher Frei­heit heu­te geführt. Frei­heit, Gleich­heit und Brü­der­lich­keit als Schlag­wor­te der fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on haben im Gedan­ken der Frei­heit eines Chri­sten­men­schen durch­aus Wur­zeln. Selbst den­ken, selbst urtei­len, Meinungs‑, Rede- und Gewis­sens­frei­heit – das sind refor­ma­to­ri­sche Errun­gen­schaf­ten, die gera­de in ihrer Ent­wick­lung durch die Auf­klä­rung man­ches Mal durch­aus gegen die Insti­tu­ti­on Kir­che erkämpft wer­den mussten.“
Das soll wohl heißen:
Der into­le­ran­te Luther pflanz­te die Wur­zeln zu jenem Tole­ranz­baum, der als auf­ge­klär­ter Frei­heits­baum der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on die ker­ni­gen Früch­te von Reli­gi­ons- und Mei­nungs­frei­heit her­vor­ge­bracht haben soll, aller­dings im Gegen­wind der refor­ma­to­ri­schen Kirchen.

Weder weltliche noch geistliche Freiheit für die Untertanen

Wie oben schon gesagt: Allein dadurch, dass Luther die Wil­lens­frei­heit der Ein­zel­nen leug­ne­te, ent­zog er dem frei­en Ent­schei­den und Han­deln des Men­schen die (anthro­po-) logi­sche Basis. Sodann for­mu­lier­te Luther sei­ne The­sen oft­mals schön dia­lek­tisch, so dass man/​frau sich das jeweils Pas­sen­de aus­su­chen kann: „Ein Chri­sten­men­schen ist in allen Din­gen ein frei­er Herr.…. und zugleich ein dienst­ba­rer Knecht und jeder­mann unter­tan.“ Im Zusam­men­hang mit Luthers Zwei-Rei­che-Leh­re ist die­ser Satz jedoch ein­deu­tig: In öffent­lich-gesell­schaft­li­chen Fra­gen hat der christ­li­che Bür­ger nach Luther auf kei­nen Fall die poli­ti­schen Grund­frei­hei­ten wie Mei­nungs- und Rede­frei­heit (wie Frau Käß­mann ihrem Refor­ma­ti­ons­idol unter­stellt), son­dern ist der Obrig­keit unter­tä­nigst aus­ge­lie­fert. Aber auch die geist­li­che „Frei­heit eines Chri­sten­men­schen“ wird durch den spä­te­ren Luther in ihr Gegen­teil ver­wan­delt: Durch Luthers Idee, nach der die gott­ge­setz­ten Für­sten neben der welt­lich-staat­li­chen Gewalt auch die Funk­ti­on von Not­bi­schö­fen und heils­be­auf­trag­ter Obrig­keit zu über­neh­men hät­ten, wur­de die ursprüng­lich gefor­der­te geist­li­che Frei­heit der Chri­sten in geist­li­che Unfrei­heit gekehrt, näm­lich in staats­kirch­li­che Unter­tä­nig­keit. Übri­gens kam die­ses Kon­zept in den pro­te­stan­ti­schen Staa­ten noch wäh­rend der Auf­klä­rung zur Blüte.

Luther wollte keine Toleranz und noch weniger Pluralität

Wenn man die all­sei­ti­ge Into­le­ranz Luthers Revue pas­sie­ren lässt und sich dazu die argu­men­ta­ti­ven Ver­bie­gun­gen der pro­te­stan­ti­schen Prot­ago­ni­sten vor Augen hält, dann wird es umso unver­ständ­li­cher, war­um die EKD-Ver­ant­wort­li­chen in der Refor­ma­ti­ons­ju­bi­lä­ums­de­ka­de unter dem Bild von Luther dick und fett „Tole­ranz“ schrei­ben lassen.

Der Ber­li­ner Histo­ri­ker Hein Schil­ling, Ver­fas­ser eines Luther-Buches, kri­ti­siert den Ansatz der EKD: Luther kön­ne nicht „am Tole­ranz­be­griff des 21. Jahr­hun­derts gemes­sen wer­den.“ Der moder­ne Tole­ranz­be­griff habe sich erst mit und nach der Auf­klä­rung gebil­det. Von Luther und den ande­ren Refor­ma­to­ren sei­en Tole­ranz und Plu­ra­li­tät nicht gewollt oder ange­strebt wor­den. Erst als Ergeb­nis der histo­risch-poli­ti­schen Patt-Kon­stel­la­ti­on zwi­schen katho­li­schen und pro­te­stan­ti­schen Für­sten ist über das not­dürf­tig befrie­den­de Cui­us-regio-eius-reli­gio-Prin­zip eine allein staats­recht­li­che Dul­dungs­to­le­ranz ver­ein­bart wor­den. Die­se ent­hielt aber weder „Respekt-Tole­ranz“ (N. Schnei­der) vor der Reli­gi­on der kon­fes­si­ons­ver­schie­de­nen Für­sten und erst recht kei­ne Dul­dung von Reli­gi­ons­frei­heit bei den fürst­li­chen Unter­ta­nen, wie oben schon dargelegt.

Eine Distanzierung von allen Intoleranzen Luthers ist notwendig

Dr. Vol­ker Jung, der Prä­si­dent der Evan­ge­li­schen Kir­che von Hes­sen und Nas­sau, for­der­te auf der Früh­jahrs­syn­ode in Frank­furt, dass die EKD sich in aller Deut­lich­keit von den untrag­ba­ren und ver­häng­nis­vol­len Äuße­run­gen Mar­tin Luthers gegen die Juden distan­zie­ren soll­te. Eine offi­zi­el­le Distan­zie­rung von den anti­jü­di­schen Schrif­ten Luthers „stün­de der EKD auf dem Weg zum Refor­ma­ti­ons­ju­bi­lä­um gut an“. Die dies­be­züg­li­che Distan­zie­rung vom Refor­ma­tor begrün­det sich aber nicht allein im guten Anste­hen. Sie ist auch nicht nur in einem Fall not­wen­dig. Wenn die Pro­te­stan­ten die Jah­res­pa­ro­le von der „Tole­ranz“ ernst näh­men, dann soll­ten sie sich von allen Into­le­ran­zen Luthers distan­zie­ren, ins­be­son­de­re auch von den pau­scha­len Ver­teu­fe­lun­gen und „durch­bö­sten“ Schmäh­schrif­ten des Refor­ma­tors gegen Papst und Kirche.

Durch prinzipienlosen Opportunismus zum Patchwork-Luthertum?

Die Ver­ant­wort­li­chen der EKD schei­nen einen ande­ren Weg gehen zu wol­len. Mit ihren wider­sprüch­li­chen und ver­wir­ren­den Äuße­run­gen zu Mar­tin Luther ver­mit­teln sie einen zwie­späl­ti­gen Ein­druck. Sie hal­ten zwar eini­ge Aus­sa­gen des Refor­ma­tors für ein­sei­tig-über­zo­gen, ande­rer­seits aber bemü­hen sie sich, des­sen Kampf­schrif­ten histo­risch zu rela­ti­vie­ren, theo­lo­gisch zu recht­fer­ti­gen, wir­kungs­ge­schicht­lich zu ver­harm­lo­sen oder sogar ins Gegen­teil zu ver­keh­ren (so etwa bei der poli­ti­schen Frei­heits­ge­schich­te). Unter die­sem Aspekt wird der Ver­dacht vom prin­zi­pi­en­lo­sen Oppor­tu­nis­mus der Stra­te­gen des Luther-Jubi­lä­ums noch ein­mal bestärkt, inso­fern sie das moder­ne „Toleranz“-Etikett zum Berg­fest-Mot­to für die Luther-Jubi­lä­ums­de­ka­de festlegten:

Man will dem refor­ma­to­ri­schen Luther­tum par­tout einen zeit­gei­sti­gen Rock anpas­sen, ihm ein Aggior­na­men­to-Kleid schnei­dern und dann das Patch­work-Gewand der Auf­klä­rung umhän­gen. Anschlie­ßend wird auf die moder­ni­sti­sche Dra­pie­rung des Pro­te­stan­tis­mus der histo­ri­sche Luther-Kopf mit schwar­zem Dok­to­ren-Barett auf­ge­setzt. Bei die­ser auf­ge­hübsch­ten Insze­nie­rung der refor­ma­to­ri­schen Geschich­te kann man zwar mit den Flö­ten­tö­nen von Käßmann’s Erzäh­lun­gen die Luther­tums­pup­pe zum Tan­zen brin­gen, aber kaum das Feh­len von inne­rer Kon­si­stenz und Glaub­wür­dig­keit verdecken.

Text: Hubert Hecker
Bild: Lucas Cra­nach der Jün­ge­re: Abend­mahl der Pro­te­stan­ten und Höl­len­sturz der Katho­li­ken (um 1540)

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