(Rom) Die schwarze Fahne des Islamischen Staates (IS) weht auf dem Obelisk des Petersplatzes. Mit dieser Fotomontage auf der Titelseite feiert das Hochglanzmagazin des Islamischen Staates (IS) – ja, auch so etwas gibt es – den „gescheiterten Kreuzzug“. Unterdessen geht der Kampf um Kobane weiter. Die Frontstellungen sind unklar. Klar ist lediglich, daß im Nahen Osten keine Partei die Interessen der Christen vertritt. Wer Bilder von den von Islamisten ermordeten christlichen Kindern sieht und dabei ohnmächtigen Zorn über die Gräuel des Islamischen Staates (IS) empfindet, der sollte sich zumindest ebensosehr über jene Hintermänner aufregen, die den Aufstieg des Islamischen Staates möglich machten und ihn noch immer unterstützen. Denn zu den Christenmördern gehören auch sie.
Der „gescheiterte Kreuzzug“
Es handelt sich um die vierte Ausgabe des IS-Magazins Dabiq, deren Titelseite die provokante Fotomontage zeigt. Dabiq ist eine Stadt im Norden Syriens. Daß ein blutgieriger Kampfverband von angeblichen Steinzeit-Taliban Zeit und Mittel hat, ein Hochglanzmagazin herauszugeben, erstaunt bestenfalls den, der den Nahost-Konflikt in einer Schwarz-weiß-Vereinfachung sieht.
Mit dem „gescheiterten Kreuzzug“ meinen die Islamisten die Initiative, „den Islamischen Staat zu zerstören“ und der Ausdruck scheint auf die Luftangriffe der von den USA geführten Allianz gemünzt zu sein. Vorsicht ist dennoch geboten: Desinformation bestimmt auf beiden Seiten das Bild. Die USA waren es, die zusammen mit Saudi-Arabien und Katar den Islamischen Staat aufgebaut und aufgerüstet haben. Die Beweggründe waren unterschiedlich, allerdings mit dem gemeinsamen Ziel, die Assad-Regierung in Syrien zu stürzen.
Was über die westlichen Medien lange Zeit als demokratischer Aufstand freiheitsliebender syrischer Bürger gegen eine abscheuliche Assad-Diktatur präsentiert wurde, deren bewaffneter Arm die demokratischen Freiheitskämpfer der Freien Syrischen Armee war, entpuppte sich bei näherem Hinsehen immer mehr als islamistische Armee, die Syrien nebenbei auf brutaler Weise christenfrei bombte. Es brauchte einige Zeit bis auch der letzte westliche Journalist das Märchen von der Freien Syrischen Armee fallenließ. Allein die Tatsache, daß niemand je zuvor von einer solchen Gruppe gehört hatte, hätte stutzig machen müssen. „Hätte“, doch wer fragt so genau nach.
Wo Freie Syrische Armee draufstand, war der Islamische Staat drinnen
So plötzlich wie sie aufgetaucht war, verschwand die Freie Syrische Armee auch wieder in der Versenkung. Eine Erklärung gab es keine. Sonst müßte zugegeben werden, daß die Freie Syrische Armee immer der Islamische Staat war, daß man nur die Menschen im Westen für dumm verkauft hat. Wer aber hätte die Möglichkeiten, die Presseagenturen dermaßen zu manipulieren?
Dafür steht heute diese „Armee“ als das vor uns, was sie in der Tat immer war. Al-Qaida in einem anderen Kleid. Was war geschehen? Die hochgerüsteten Kämpfer haben sich selbständig gemacht und erobern sich ihr eigenes Gebiet. Auf ihrem Weg morden sie so ungeniert, daß die Lüge von pro-westlichen Freiheitskämpfern einfach nicht mehr aufrechterhalten werden konnte. Die Assad-Regierung sitzt zwar noch im Sattel, doch immerhin konnte die zuletzt wenig US-hörige irakische Regierung ersetzt werden. Die US-Bomber können nun immerhin, offiziell im Kampf gegen den Islamischen Staat, Ziele in Syrien bombardieren und nebenbei die Regierung Assad schwächen.
Die Christen sind die Opfer da wie dort. Während zwischen Mittelmeer und Tigris alles in Bewegung ist, herrscht in den arabischen Emiraten Gelassenheit. Noch erstaunlicher ist die Gelassenheit Israels. Die schwarze Fahne weht am Golan, doch Tel Aviv zuckt nicht mit der Wimper. Solange Assad dort oben das Sagen hatte, stand Israel Gewehr bei Fuß und klagte über eine unmittelbare Bedrohung. Übersetzt in die Sprache der US-Regierung avancierte Syrien zu einem Teil einer „Achse des Bösen“. Und der kindermordende Islamische Staat (IS)?
Die Türkei arbeitete bereits in den vergangenen zwei Jahren des Anti-Assad-Krieges tatkräftig mit den Islamisten zusammen. So darf es auch nicht verwundern, wenn die großen Medien berichten, daß Kobane nach wie vor vom Islamischen Staat (IS) belagert wird, obwohl die US-Luftstreitkräfte, offensichtlich mit wenig Einsatz, seit Tagen deren Stellungen bombardieren. Dieselben Streitkräfte, die in Libyen in vierzehn Tagen aus der Luft die ganze Armee Muammar al-Gaddafis vernichteten.
Allein der Namenswechsel in Islamischer Staat (IS) mag den islamistischen Kämpfern schmeicheln, diskreditiert jedoch auf radikale Weise den gesamten Islam und bereitet potentiell das Terrain zur Bekämpfung einer ganzen Religion und nicht nur einer Terrrororganisation. Im Nahen Osten meint der außenstehende Betrachter etwas verstanden zu haben, um kurz darauf feststellen zu müssen, durch Desinformation sich vor einen bedenklichen Karren gespannt haben zu lassen. Im Nahen Osten wird scharf geschossen. In jeder Hinsicht.
Krieg um Kobane
Die mehrheitlich kurdische Stadt an der Grenze zur Türkei ist für die Islamisten von strategischer Bedeutung. Sie würde ihre Herrschaft über Nord-Syrien sichern. Mehr als 200.000 Kurden haben sich zu Verwandten in die Türkei geflüchtet. Von Kobane aus wäre es den Islamisten möglich, die von ihnen gehaltene Stadt Raqqa zu versorgen und über eine direkte Landbrücke mit Aleppo zu verbinden. Die Erreichung eines geschlossenen Islamistenterritoriums würde damit einen guten Schritt weiterkommen.
Die Türkei verhält sich sehr zurückhaltend. Die Ausdehnung des Islamischen Staates (IS) schien zunächst den kurdischen Traum vom eigenen Staat näher zu bringen. Eine Aussicht, die Ankara keineswegs gefiel. Die Türkei hatte bereits in Syrien mit den sunnitischen Islamisten zusammengearbeitet und diesen auf türkischem Boden ein sicheres Rückzugsgebiet ermöglicht. Der Angriff des Islamischen Staates (IS) gegen die irakischen und syrischen Kurden lag damit bereits in der Luft. Die Islamistenarmee verrichtet schließlich die Arbeit der Türkei. Ankara wird sich daher hüten, die Islamisten daran zu hindern, ihr Werk zu vollenden.
Türkische Hilfe für Islamischen Staat (IS)
Im Gegenteil. Die Türkei verhinderte bisher mit Waffengewalt nur eines: daß irakische Kurden den eingeschlossenen syrischen Kurden in Kobane zu Hilfe kommen können. Die Türkei erklärt kurzerhand alle Kurden zu Unterstützern der anti-türkischen Kurdenpartei PKK. Euphemistisch erklärte der türkische Staatspräsident Erdogan: „Für uns ist die PKK wie der Islamische Staat“. Er vergaß allerdings einen kleinen Unterschied zu benennen: die PKK kämpft für ein von der Türkei unabhängiges Kurdistan, während der Islamische Staat im Interesse der Türkei die Kurden bekämpft.
Die syrischen Christen in Syrien und im Irak, die zu den ältesten christlichen Gemeinschaften der Welt gehören, zählen ihre Toten. Ihre Gemeinschaften sind ermordet, zerstreut, leben unter erbärmlichsten Verhältnissen in Flüchtlingslagern oder befinden sich in der Diaspora. Was nach dem IS-Sturm zurückbleibt, ist ein kümmerlicher Rest.
Darum die Fragen: Wem schaden Krieg und Chaos im Nahen Osten? Allen, gewiß. Allen voran jedoch den Christen, die keine wirkliche Stimme im Kapitel habe. Und wem nützen Krieg und Chaos im Nahen Osten? Dem kritischen Leser die Antwort.
Text: Andreas Becker
Bild: Tempi