Gastkommentar von Andreas Becker
(Edinburgh/Barcelona) In der Ost-Ukraine lieg Krieg in der Luft. Die Gründe sind vielfältig. Propaganda und Gegenpropaganda werfen dichte Nebelbänke. Ein Grund ist jedenfalls, weil Grenzen unabhängig von ihrer Berechtigung als unantastbar behauptet werden. Ganz anders scheinen die Dinge in Schottland und Katalonien zu liegen, die ihre Unabhängigkeit von Großbritannien und Spanien anstreben. Die katholischen Bischöfe verhalten sich zur Frage neutral, haben jedoch da wie dort die Legitimität des Unabhängigkeitsstrebens und des Selbstbestimmungsrechts der Völker bestätigt.
Die Willkür von Grenzen
Die Unverrückbarkeit von Staatsgrenzen wird von dem Staat behauptet, der ein umstrittenes Gebiet kontrolliert. Dies geschieht in der Regel gegen einen anderen Staat, der das Gebiet fordert oder nicht selten gegen die betroffene Bevölkerung, die sich von einem Staat trennen will, in den sie häufig gegen ihren Willen hineingezwungen wurde. Wie willkürlich manche Grenzen entstanden sind, davon weiß das 20. Jahrhundert ein Lied zu singen. In dieser Willkür ist auch einer der Gründe für die heutigen blutigen Konflikte im Nahen Osten zu suchen. In Syrien, im Irak und nicht nur dort.
Millionen Deutsche, die bei Kriegsende und noch lange danach aus ihrer Heimat vertrieben wurden, wissen ebenfalls dieses Lied zu singen. Ihre Heimat haben sich andere Staaten und Völker unter den Nagel gerissen, indem man ausgerechnet das tat, was man der NS-Regierung zum unentschuldbaren Vorwurf machte. Ähnliche Erfahrungen mußten auch andere europäische Völker machen. Der Stärkere bestimmt die Regeln. Die Lügen der Verlierer werden entlarvt, während die Lügen der Sieger zur offiziellen Geschichtsschreibung werden.
Unabhängigkeitsbestrebungen in Schottland und Katalonien
Daß es auch anders geht, zeigen derzeit Schottland und Katalonien. Das Königreich Schottland und das Königreich England bilden seit 1707 das Vereinigte Königreich Großbritannien. Am 18. September werden die Schotten darüber abstimmen, ob sie ihre Souveränität wiederhaben oder weiterhin mit England in einem Staat vereint sein wollen.
Gleiches geschieht am 9. November in Katalonien. Das ehemalige Fürstentum Katalonien war 1714 in den kastilisch dominierten spanischen Staat eingegliedert und seine Selbstverwaltung beseitigt worden. Nordkatalonien, war bereits 1659 von Frankreich annektiert worden.
Schottisch und Katalanisch, Kastilisch und Englisch
In Schottland ist Englisch Mutter‑, Verkehrs- und Amtssprache. Das Schottische ist im Sinne der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen anerkannt und gilt im Schottischen Parlament neben Englisch als gleichberechtigte, wenn auch nicht gleichgewichtete Amtssprache. Allerdings wird Schottisch nur mehr von einem Drittel der Schotten fließend gesprochen.
In Katalonien ist Katalanisch neben Kastilisch seit 1978 völlig gleichberechtigte Amtssprache. Katalanisch ist Hauptverkehrssprache im täglichen Leben. Faktisch alle Einwohner Kataloniens verstehen Kastilisch und Katalanisch. 75 Prozent sprechen Katalanisch, 60 Prozent können auch fließend katalanisch schreiben.
Wie in den meisten Minderheitengebieten befinden sich die Minderheitensprachen, ob Schottisch oder Katalanisch unter dem Druck der dominierenden Staatssprache. Durch die Eigenstaatlichkeit sehen die Unabhängigkeitsbefürworter auch die Chance, die eigenen Sprachen wieder stärker zur Geltung zu bringen.
Eigene Geschichte, eigene Sprache, eigene Identität
Schottland und Katalonien können auf eine eigene Geschichte, ein eigenes historisches Staatswesen, eigene Sprache und Kultur verweisen. Beide Länder wurden von stärkeren Nachbarn teils fließend, teils gewaltsam integriert, ihrer Eigenstaatlichkeit beraubt, phasenweise unterdrückt und einer Assimilierung unterworfen. Sowohl Schotten als auch Katalanen bewahrten sich jedoch eine ausgeprägte Identität und drängen nun auf Wiedergewinnung ihrer Eigenstaatlichkeit durch Trennung von Großbritannien und Spanien. Die Europäische Union scheint diesen Prozeß möglich zu machen, den die jeweiligen Zentralregierungen in London und Madrid bis vor kurzem noch mit Waffengewalt niedergeschlagen hätten.
EU-Mitgliedschaft weiterhin möglich?
Dennoch bestehen gewisse Unsicherheiten auf allen Seiten, weil in der EU bisher Präzedenzfälle für solche Sezessionsprozesse fehlen von Gebieten, die nach Erreichung der Unabhängigkeit in der EU bleiben wollen. Schottland wäre der 29., Katalonien der 30. EU-Mitgliedsstaat. Beide Länder wären an Fläche, Einwohnern und Wirtschaftskraft stärker als manche derzeitige Mitgliedsstaaten.
Die Trennung der Slowaken von den Tschechen, die nach dem Ersten Weltkrieg und erneut nach dem Zweiten Weltkrieg in ein tschechisch dominiertes Staatskonstrukt gezwungen worden waren, erfolgte 1994 noch vor dem EU-Beitritt dieser Gebiete.
Färöer und Grönland
Mit Einschränkungen könnte der Austritt der Färöer aus der Europäischen Gemeinschaft (EG) genannt werden. Die Insel-Gruppe in der Nordsee ist seit 1948 weitgehend selbstverwaltet und genießt im dänischen Staatenbund den Status einer „gleichberechtigten Nation“. Als Dänemark 1972 der EG beitrat, sprachen sich die Färinger 1973 in einer Volksabstimmung gegen die Mitgliedschaft aus. Eine Entscheidung, die 1974 vollzogen wurde, weshalb die Inseln nicht Teil der EU sind.
Ähnliches gilt für Grönland, das innerhalb Dänemark ebenfalls eine eigene, selbstverwaltete „Nation“ bildet. Grönland wurde 1972 mit Dänemark EG-Mitglied. Dagegen entstand eine grönländische Volksbewegung, die zur Durchführung einer Volksabstimmung führte, bei der sich die Grönländer 1982 für einen Austritt aus der EG aussprachen, der 1985 vollzogen wurde. Aus diesem Grund ist heute auch Grönland nicht Teil der Europäischen Union. Ein Wiederaufnahmeantrag wurde bisher weder von Färöer noch von Grönland gestellt.
Die britische, vor allem jedoch die spanische Regierung drohten den Unabhängigkeitsbefürwortern in Schottland und Katalonien, daß sie im Falle einer Mehrheit für die Unabhängigkeit aus der EU hinausfliegen würden. Die Europäische Kommission bestätigte diesen Standpunkt trotz anfänglich widersprüchlicher, allerdings unverbindlicher Aussagen einzelner Politiker aber nicht.
Bischöfe erkennen Legitimität der Sezessionsbestrebungen an
Kataloniens und Schottlands katholische Bischöfe erkannten unterdessen die Legitimität der Unabhängigkeitsbestrebungen an. 16 Prozent der Schotten sind katholisch und über 80 Prozent der Katalanen. Die Bischöfe geben keine Empfehlung ab, wie die Bevölkerung abstimmen soll. Die schottischen Bischöfe erklärten sich in der Frage ob Union mit London oder Unabhängigkeit für neutral. Sie forderten die Menschen jedoch auf, von ihrem demokratischen Entscheidungsrecht Gebrauch zu machen. Eine eindeutige Anerkennung der Legitimität der Unabhängigkeitsbewegung.
Die katholischen Bischöfe Kataloniens stehen unter stärkerem Druck der Spanischen Bischofskonferenz, zumal die spanische Regierung die Verfassungswidrigkeit der Unabhängigkeitsbestrebungen behauptet. Umso deutlicher sprachen sich die katalanischen Bischöfe für die Unabhängigkeistbewegung aus. Bereits im Oktober 2012 distanzierten sie sich von einer Erklärung der Bischofskonferenz, die sich für ein „unteilbares Spanien“ ausgesprochen hatte. Heute bekräftigte dies Bischof Xavier Novell von Solana. Bischof Novell forderte seine Diözese auf, sich aktiv an der Unabhängigkeitsfrage zu beteiligen und an der Abstimmung im November teilzunehmen. Sebastià Taltavull, Weihbischof von Barcelona und rechte Hand von Erzbischof Lluàs Kardinal Martànez Sistach von Barcelona erklärte: „Die Kirche steht an der Seite des katalanischen Volkes“. Während die Bischöfe Sympathien erkennen lassen, sich aber nicht offen für die Unabhängigkeit aussprechen, wird in Katalonien aufmerksam registriert, daß sie sich hingegen offen von der kategorischen Ablehnung der Zentralregierung distanzieren. Unterhalb der Bischöfe sprechen sich zahlreiche Priester und Ordensleute, ganz offen für die Unabhängigkeit von Spanien aus.
Das Ergebnis sowohl der einen wie der anderen Volksabstimmung steht nicht fest. Ob eine Mehrheit der Schotten und der Katalanen letztlich für Sezession und Eigenstaatlichkeit sind, wird sich erst an den Abstimmungsabenden zeigen. Die Tatsache, daß Abstimmungen stattfinden können, ist – denkt man an den Ausbruch des Ersten und des Zweiten Weltkrieges, deren in diesem Jahr gedacht wird – allerdings Ausdruck eines enormen Reifungsprozesses in den bestehenden souveränen Staaten und des Völkerrechts.
Auch Weg zur Lösung der Ukraine-Krise?
Noch läßt sich nicht absehen, wie der Unabhängigkeitsprozeß Schottlands und Kataloniens sich weiterentwickeln wird. Vielleicht tut sich jedoch, wie immer das Ergebnis ausfällt, ein neuer friedlicher Weg auf, Fragen der staatlichen Zugehörigkeit, der Grenzen und der ethnischen und religiösen Minderheiten zu lösen. Das könnte dann auch ein Weg für die Ukraine sein, wie immer dann die Lösungswünsche der betroffenen Bevölkerung sein werden.
Auch andere europäische Regionen mit Minderheiten oder historischen und kulturellen Besonderheiten wie Flandern, das Baskenland, Südtirol, Korsika, Venetien, Sardinien beobachten die Entwicklung in Schottland und Katalonien aufmerksam. Ebenso die jeweiligen Staatsregierungen und die Europäische Kommission in Brüssel, die sich gerade konstituiert.
Bild: Wikicommons/Freedom for Scotland/Catalunya Independencia