(Bagdad) Die Dschihadisten des Islamischen Staates (IS) haben die größte christliche Stadt in der Ninive-Ebene im nördlichen Irak erobert. 100.000 Christen befinden sich auf der Flucht. Hilfsorganisationen sprechen von einer “humanitären Katastrophe“. Wie lange schaut der Westen noch zu? Christliche Solidarität ist für die “neutrale“ westliche Staatsdoktrin wirklich keine Kategorie mehr?
Am vergangenen 20. Juli waren die Christen von Bachdida (Qaraqosh) noch Zufluchtsort der von den Islamisten vertriebenen Mönche des 1600 Jahre alten syrisch-katholischen Klosters Mar Behnam auf. Die Islamisten hatten das Kloster besetzt und die Mönche vor die Alternative „Bekehrung“ zum Islam, Flucht oder Tod gestellt. Kurdische Perschmerga brachten die Mönche nach einem mehrstündigen Flußmarsch zu den Christen von Bachdida. Nun wurde auch die kaum 30 Kilometer südöstlich von Mosul gelegene Stadt von den Islamisten erobert. Die irakische Armee hat die Ninive-Ebene nach ersten erfolgslosen Kämpfen preisgegeben. Die Christen organisierten trotz Mangel an Waffen zwar eine Art Bürgerwehr, waren den kampferprobten, von den Ölemiraten finanzierten und von Washington gutausgerüsteten Dschihadisten jedoch hoffnungslos unterlegen.
Christen schutzlos – Radikale Säuberung
Bachdida, bekannt auch unter dem Namen Qaraqosh, ist die größte christliche Stadt im Irak. In der Stadt befindet sich die größte christliche Kirche des Landes an Euphrat und Tigris. Die Christen haben auf ihrer Flucht, soweit möglich, die In der Stadt aufbewahrten und verehrten Reliquien mitgenommen. Andere wurden vergraben. Sie fürchten, daß die Kirchen geschändet oder zerstört werden. Der chaldäische Erzbischof Yousif Thomas Mirkis von Kirkuk-Sulaimaniya , ein Dominikaner, spricht von einer „ungeahnten menschlichen Katastrophe“ und einer „tragischen Situation“. Er befürchtet, daß die größte Kirche der Stadt von den Islamisten in eine Kommandozentrale zweckentfremdet werden könnte, wie es bereits in anderen Orten geschehen ist. „Eine Machtdemonstration“, so der Erzbischof. „Zehntausende Menschen werden terrorisiert und vertrieben, während wir hier reden. Wir erleiden eine Katastrophe, die kaum in Worten zu beschreiben ist.“
Nicht nur Bachdida, sondern die gesamte Gegend wurde von den Islamisten erobert, so auch die anderen christlichen Orte Tal Kayf, Bartella und Karamlesh. Die Gegend wird „gesäubert“. Wen die Islamisten nicht sofort erschießen (Männer) oder verschleppten (Frauen) hat nur die Alternative „Flucht oder Tod“. Da die irakische Staatsgewalt in der Provinz Ninive nicht mehr existiert, hofften die Christen auf den Schutz der kurdischen Peschmerga. Diese sind bereit, den Christen im kurdischen Gebiet Schutz zu bieten, wollen sich aber mangels Waffen nicht auf direkte Kampfhandlungen mit den Islamisten außerhalb Kurdistans einlassen. Damit blieb die mehrheitlich christliche Gegend von Qaraqosh schutzlos.
Eroberung mit dem Ruf Allahu Akbar – Massenhinrichtungen
„Wir erleben einen Genozid durch Säuberung. Wie lange will die Welt noch zuschauen? Wir fordern den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen auf, sofort einzugreifen. Hier findet eine Katastrophe größten Ausmaßes statt. Warum hilft uns niemand.
Auch die nahegelegene Stadt Tal Kayf wurde von den Islamisten erobert: „Die Islamisten kamen in der Nacht. Es fielen Schüsse. Lange Konvois bewaffneter Kämpfer des Islamischen Staates drangen in die Stadt ein. Unter dem Ruf Allhu Akbar proklamierten sie ihre Bedingungen“, so ein Christ aus Tal Kayf, dem die Flucht in die kurdische Hauptstadt Erbil gelang.
Aus der Stadt Sinjar wurde neben den Christen auch die Minderheit der Jesiden vertrieben. Sogar Moslems traten die Flucht an. Etwa 500 Männer der Stadt wurden von den Islamisten hingerichtet, Hunderte von Frauen, vor allem Christinnen wurden als Sklavinnen der Islamisten verschleppt, so Tempi unter Berufung auf irakische Quellen.
Patriarch Sako: „Menschen erleiden hier Via Crucis“
Der chaldäische Patriarch Louis Raphael I. Sako von Bagdad, der vor einigen Tagen einen verzweifelten Hilferuf an Papst Franziskus gerichtet hatte, erklärte: „Sie schaffen eine Leere, eine Leere. In Syrien gibt es eine intakte Armee, die gegen die Islamisten kämpft. Im Irak gibt es keine Armee mehr, die irgendwen schützen kann. Die Kurden ziehen sich in ihre Gebiete zurück. Sie haben nur leichte Waffen. Die Islamisten sind sehr gut bewaffnet. Tausende von Menschen sind auf den Straßen auf der Flucht. Ihr Ziel ist ungewiß. Wenn nicht Hilfe kommt, droh 50.000 von ihnen der Tod durch Hunger und Durst. Es sind Frauen, Kinder, Alte. Es ist notwendig, das Gewissen der öffentlichen Meinung aller Länder zu mobilisieren. Die Menschen auf der Flucht, zu Fuß, erleben ihre Via Crucis.
Asianews startete inzwischen eine konkrete Hilfsaktion, die hoffentlich auch im deutschen Sprachraum Nachahmung findet. Unter dem Stichworte: „Adoptiere einen Christen von Mosul“ werden Spenden gesammelt. Mit fünf Euro am Tag kann einem Flüchtling geholfen werden. Die Gelder werden dem Patriarchat von Bagdad übermittelt, das die Hilfsaktion für die verfolgten Christen koordiniert.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Asianews/Tempi