Ist das mehrjärige Lektionar des Novus Ordo, das eine weit größere Anzahl von Schriftlesungen umfasst, dem alten einjährigen Lektionar des usus antiquior überlegen? Für eine sehr lange Zeit wurde diese Frage kaum ernstgenommen, da man annahm, darauf mit einem offensichtlichen „ja“ antworten zu können. Es ist daher erfreulich zu sehen, dass sich mehr und mehr Leute der Ernsthaftigkeit dieser Frage bewusst werden und Vergleiche und Studien anstellen, anstatt auf eine unverwechselbar moderne Art anzunehmen, dass mehr grundsätzlich besser ist.
Vielmehr hat mich jahrzehntelange Erfahrung mit beiden Lektionaren zur entgegengesetzten Schlussfolgerung geführt: Das neue Lektionar ist schwerfällig, und man kann sich nur schwer damit arrangieren, während der alte Zyklus der Lesungen wunderschön proportioniert ist angesichts seines liturgischen Zwecks und des natürlichen Rhythmus des Jahres. Die regelmäßige und tröstliche Wiederkehr der Lesungen hilft dem Kirchgänger, ihre Lehren noch nachhaltiger aufzunehmen.
Derjenige, der in die traditionelle Liturgie eintaucht, erkennt, dass die jährlichen Lesungen mit der Zeit Bein von seinem Bein und Fleisch von seinem Fleisch werden. Man beginnt, über bestimmte Monate und Jahreszeiten, bestimmte Sonntage oder Gruppen von Heiligen zusammen mit den jeweiligen feststehenden Lesungen nachzudenken, die der frommen Seele ihre Bedeutung mehr und mehr öffnen. Wenn das Wort Gottes eine unendliche Tiefe hat, lädt uns die traditionelle Liturgie ein, Jahr für Jahr vor demselben Brunnen zu stehen, unseren Eimer hinunterzulassen, und auf diese Weise der unerschöpflichen Tiefe gewahr zu werden, die vielleicht nicht so offensichtlich ist für jemanden, der seinen Eimer über zwei oder drei Jahre an verschiedenen Orten in den Strom taucht.
Der Zusammenhang konkreter Lesungen mit konkreten Heiligen oder Gruppen von Heiligen in allen traditionellen westlichen liturgischen Riten ist eine intelligente und weise Einrichtung. Indem er bestimmte Lesungen und Evangelien wieder und wieder vernimmt, kann der Katholik leichter ihre Bedeutung aufnehmen und wird wirklich vertraut mit dem Wort Gottes, wie es illustriert und uns lehrt über den Triumph unseres Herrn, unserer lieben Frau und der Heiligen Gottes.
Das Ziel des christlichen Glaubens ist nicht eine materielle Kenntnis der Heiligen Schrift, sondern persönliche Heiligung und Bekehrung, was der formale Inhalt und das Ziel der Schrift selbst ist. Auf eine besondere Weise werden die Heiligen vorgestellt als Beispiel für uns, wie man leben soll, wie man glauben soll, wie man lieben soll, und die Heilige Schrift ist richtigerweise in den Dienst dieser Absicht gestellt.
Das Ziel der Liturgie ist nicht, uns mit der Heiligen Schrift vertraut zu machen wie ein Bibelkreis – was außerhalb der Messe natürlich geschehen sollte –, sondern uns die richtige Bildung des Verstandes zu geben bezüglich der Wirklichkeiten unseres Glaubens. Die grundlegenden Elemente des Glaubens müssen Woche für Woche, Tag für Tag eingeprägt werden; und daher ist es pädagogisch höchst angemessen, dass gewisse Lesungen jährlich wiederholt werden, beispielsweise die Epistel und das Evangelium für die verschiedenen Sonntage nach Pfingsten, die Lesungen der Osterwoche, die Lesungen für bestimmte Kategorien von Heiligen. Auf diese Weise wird das christliche Volk geformt mittels der Verkündigung fundamentaler Texte den Jahreskreis hindurch, anstatt jeden Tag in immer neue Textregionen entführt zu werden – besonders einige der trockeneren historischen Schilderungen oder längere Abschnitte der Propheten, von denen man vielleicht nur schwer profitieren kann, abgesehen von außerliturgischem Studium.
Beispielsweise besteht das liturgische Ziel, die Propheten zu lesen, darin, auf klare und deutliche Art auf Christus und die Kirche hinzuweisen. Um dieses Ziel zu erreichen ist es mehr als ausreichend, die eindrucksvollsten und lehrreichsten Abschnitte auszuwählen und sie beständig zu verwenden. Wir holen spirituell viel mehr aus einer inspirierten Passage, die uns vertraut wird, als aus einem langfristigen Zyklus, der eine Menge Schriftlesungen „durchbekommen“ will.
In diesem Sinne lesen wir jedes Mal, wenn wir das Fest eines heiligen Papstes im traditionellen römischen Ritus feiern, die berühmten Verse aus Matthäus 16, welche die fundamentale Berufung des Papstes zeigen und das Ideal, dem er zu entsprechen hat, sowie uns einladen, uns wieder dem Papsttum zu verpflichten als dem von Christus eingesetzten Fels, auf dass seine Kirche niemals untergehe, wenn sie durch die Angriffe Satans angeschlagen ist.
Ein anderes Beispiel (für mich eines der bewegendsten überhaupt): Am 4. Mai, dem Fest der heiligen Monika im usus antiquior, spricht der heilige Paulus in der Epistel der Messe von der Ehre, die wahren Witwen gebührt (diese Lesung teilt Monika mit anderen heiligen Witwen), aber das eigens ausgewählte Evangelium erzählt, wie Jesus den Sohn der weinenden Witwe von den Toten auferweckte und ihn seiner Mutter zurückgab. Welches Evangelium wäre perfekter für die Mutter des heiligen Augustinus? Was könnte unserem Verstand sowohl das Evangelium als auch Monikas Leben besser einprägen als diese bemerkenswerte Juxtaposition? Jedes Jahr während ihres Verweilens auf der Erde – ganz gleich wie viele tausend Jahre vergehen – gedenkt die Kirche der Mutter, die nie den Glauben an Gott verloren hat und schließlich ihren Sohn zurückgewann – tot in Sünde und Irrtum, auferstanden im Leben der Gnade.
Auf diese Weise ist die gesamte Liturgie gewirkt als ein nahtloses Gewand. Die Gebete ehren den Heiligen und rufen ihn an; die Lesungen rühmen die Tugenden des Heiligen, der als unser Beispiel und Lehrmeister vorgestellt wird; das eucharistische Opfer verbindet deutlich die triumphierende Kirche, repräsentiert durch die Aufzählung der Heiligen im römischen Kanon, mit uns Pilgern in der streitenden Kirche. Die ganze Liturgie erlangt eine Einheit der Heiligung, indem sie uns sowohl den ursprünglichen Weg der Heiligkeit zeigt – Jesus in der heiligen Eucharistie – als auch die Beispiele verwirklichter Heiligkeit – die Heiligen.
Im Gegensatz dazu sind in der neuen Liturgie die Gebete, die Lesungen und die Eucharistie unbeholfen einander gegenübergestellt – sie passen nicht länger zusammen in eine einzige „Erzählung“. Die etwas mechanische Verwendung der Heiligen Schrift ist äußerlich und akzidentell hinsichtlich der Feier der meisten Heiligenfeste, in Spannung zum tatsächlichen Zweck der Heiligen Schrift, der nicht in einfacher Kenntnis derselben besteht, sondern in der lebendigen Anwendung auf unser Leben, vermittelt durch die Leben jener, die gelebt haben, was die Heilige Schrift lehrt und sie somit inkarnieren. Die Heiligen sind, so könnte man sagen, die Heilige Schrift in Fleisch und Blut, und aus diesem Grund beruft man sich so angemessen auf das geschriebene Wort, um ihnen zu Diensten zu sein und ihren existenziellen Vorrang zu reflektieren. Wenn die Feste von Jungfrauen gefeiert werden, wählt die traditionelle Liturgie jene Lesungen, welche die Schönheit und Erhabenheit der Berufung zur Jungfräulichkeit hervorheben; und ebenso verhält es sich mit anderen Festen.
Die Heilige Schrift für sich allein ist toter Buchstabe. Es sind sind die Heiligen, die der höchste Beweis und der herrlichste Ausdruck des christlichen Glaubens sind. Die Heiligen zeigen, dass die Heilige Schrift kein toter Buchstabe ist, sondern ein lebendiges Beispiel. Wir müssen die Funktion der Heiligen Schrift in der Messe verstehen in Bezug auf ihre Ausgestaltung im Leben der Heiligen.
Eine breitere Auswahl an Lesungen hätte in das alte Messbuch inkorporiert werden können (und das kann immer noch geschehen), ohne die Wechselbeziehungen zu zerstören, die ich verteidige. Es könnte eine üppigere Verteilung passender Lesungen geben für Märtyrer, Jungfrauen, Päpste, Bekenner, Kirchenlehrer usw. Doch selbst bei einer solchen Verteilung wird die tiefe Einheit der Liturgie perfekt bewahrt, wenn die gebührende Harmonie von Gebeten, Antiphonen, Lesungen und Ordinarium durchweg respektiert wird. Besondere Proprien und Lesungen könnten für bestimmte Heilige festgelegt werden, die kontemplative Berufung des einen oder die missionarische Berufung des anderen hervorhebend; aber wiederum mit einem Blick auf die Ganzheit der Liturgie als ein Zusammenkommen der Gemeinschaft der Heiligen, um den bereits errungenen Sieg und den noch zu erringenden Sieg zu feiern.
Grundsätzlich ist nichts falsch an einer breiteren Auswahl an Lesungen, sofern die oben zusammengefassten liturgischen Richtlinien mit Sorgfalt beachtet werden. Das Problem besteht vielmehr in einer freischwebenden (vom Heiligenkalender unabhängigen) rationalistischen Abfolge von Schriftlesungen, die nur wenig leistet hinsichtlich einer tiefen Unterweisung und Erhellung des Geheimnisses der Heiligen, der Auserwählten Gottes, denen wir uns anzugleichen haben, während wir danach streben, durch die Gnade dem höchsten Heiligen Gottes angeglichen zu werden – Jesus Christus.
Originaltitel: Is Reading More Scripture at Mass Always Better?/ Übersetzung M. Benedikt Buerger
Bild: newliturgicalmovement.org