(Vatikan) Innerhalb weniger Monate wurden von Papst Franziskus sechs Heiligsprechungen außerhalb der kanonischen Regeln bekanntgegeben. Obwohl seit der Seligsprechung kein Wunder nachgewiesen wurde, das der Fürsprache des Seligen zugeschrieben wird, entschied der Papst die Heiligsprechung.
Das Kirchenrecht sieht jedoch ein Wunder für die Seligsprechung und ein weiteres für die Heiligsprechung verpflichtend vor. Kein Wunder ist bei Märtyrern notwendig. Eine weitere, sehr seltene Form ist die „gleichwertige Kanonisierung“. Sie formalisiert eine Heiligsprechung von Katholiken, die vom Volk bereits seit langem als Heilige verehrt werden und die oft schon seit vielen Jahrhunderten Tod sind und damit die Durchführung eines ordentlichen Verfahrens nicht mehr möglich ist. Auf diese Weise bestätigte Papst Benedikt XVI. offiziell den Stand der Heiligkeit der großen deutschen Äbtissin und Visionärin Hildegard von Bingen, die bereits im 16. Jahrhundert in das Martyrologium Romanum aufgenommen wurde, obwohl formalrechtlich ihr Heiligsprechungsverfahren nicht abgeschlossen worden war. Bereits aus frühester Zeit nach ihrem Tod sind Wunder bezeugt, die ihrer Fürsprache zugeschrieben werden.
Zweiter Jesuit am 2. April „außerordentlich“ heiliggesprochen
Papst Franziskus verfolgt eine ganze andere Linie, die sich außerhalb der geltenden Bestimmungen bewegt. Da der Papst der Papst ist, kann er diesen neuen Weg gehen. So empfing er Bischof Bernardo àlvarez Afonso von San Cristóbal de la Laguna auf Teneriffa (Kanarische Inseln). Papst Franziskus teilte ihm mit, daß er am kommenden 2. April den von dort stammenden Jesuiten José de Anchieta (1534–1597), den „Apostel Brasiliens“ heiligsprechen wird.
Die Nachricht war bereits Ende Februar von Kardinal Raymundo Damasceno Assis, Erzbischof von Aparecida und Vorsitzender der Brasilianischen Bischofskonferenz angekündigt worden. Bischof Alvarez gab die Heiligsprechung noch am Tag seiner Audienz beim Papst, dem 8. März auf der Internetseite seines Bistums bekannt und lieferte zusätzliche Details.
„Reguläre“ und „irreguläre“ Heiligsprechungen
Der Bischof gab bekannt, daß Papst Franziskus die Heiligsprechung seines jesuitischen Mitbruders zusammen mit zwei Seligen aus Frankreich vornehmen wird, die eine wichtige Rolle bei der Evangelisierung Kanadas spielten. Es handelt sich um die Mystikerin und Missionarin Marie de l’Incarnation, die vor dem Ordenseintritt Marie Guyart hieß (1599–1672) und den Bischof François de Montmorency-Laval (1623–1708), den ersten Bischof von Quebec.
Alle drei waren am 22. Juni 1980 von Papst Johannes Paul II. zusammen mit anderen Dienern Gottes, die in Amerika wirkten, seliggesprochen worden. Es handelt sich um Pierre de Betancour (1626–1667) und die junge Indianerin Caterina Tekakwitha (1656–1680). Beide wurden inzwischen nach einem ordentlichen Heiligsprechungsverfahren zu den Altären erhoben: Betancour am 30. Juli 2002 von Johannes Paul II. und Tekakwitha am 21. Oktober 2012 von Papst Benedikt XVI.
Die neuen Wege des neuen Papstes
“Alles ganz normal also?“, fragt der Vatikanist Sandro Magister und verneint. Der Bischof von Teneriffa gab bekannt, daß alle drei neuen Heiligen ohne ein ordentliches Verfahren heiliggesprochen werden. Von keinem der drei Seligen wurde ein zweites Wunder kanonisch anerkannt, das laut geltendem Gesetz Voraussetzung für eine Heiligsprechung ist. Die Heiligsprechung soll „außerordentlich“ durch eine „gleichwertige Kanonisierung“ erfolgen. In Rom macht das Wort die Runde, daß die beiden kanadischen Heiligsprechungen nur jene des Jesuiten „decken“ sollen, damit die Sonderform und die Sonderzuwendung, die der Jesuiten-Papst seinem Orden zukommen läßt, nicht zu auffällig seien.
Wie dem auch sei: In einem Aufsatz im Osservatore Romano vom 12. Oktober 2013 legte Kardinal Angelo Amato, der Präfekt der Kongregation für die Heiligsprechungsverfahren dar, daß es diese „außerordentliche“ Form „in der Kirche immer gegeben hat und auch regelmäßig, wenn auch nicht häufig angewandt wurde“. „Laut Benedikt XIV. seien dafür drei Elemente Voraussetzung“, so der Kardinal: der Nachweise einer alten Verehrung; die konstante und allgemeine Bezeugung der Tugenden oder des Martyriums durch glaubwürdige Historiker; und der ununterbrochene Ruf, daß auf seine Fürsprache hin, Wunder geschahen.
„Gleichwertige Kanonisierungen“ in der Kirchengeschichte
Papst Benedikt XIV. (1740–1758), der als besondere Autorität in dieser Frage gilt, listet in seinem Monumentalwerk „De servorum Dei beatificatione et beatorum canonizatione“ zwölf Heilige auf, die in den ersten 1700 Jahren Kirchengeschichte durch die “gleichwertige Kanonisierung“ heiliggesprochen wurden. Alle Heiligsprechungen dieser Art fanden erst in der Neuzeit statt. Sie betreffen die Heiligen Romuald (951‑1027), Gründer des Kamaldulenserordens (heiliggesprochen 1595); Norbert von Xanten (1080–1134), Gründer des Prämonstratenserordens (1621); Bruno von Köln (1027–1101), Gründer des Kartäuserordens (1623); Petrus Nolascus (1182–1249), Gründer des Mercedarierordens (1655); Raimund Nonnatus (1202–1240), starb in moslemischer Gefangenschaft im Austausch für christliche Gefangene und Sklaven (1681), um beispielhaft nur die ersten fünf zu nennen.
Kardinal Amato nannte auch Beispiele „gleichwertiger Kanonisierungen“, die nach dem Pontifikat Benedikts XIV. bis heute erfolgten. Dazu gehören der Benediktiner Petrus Damiani, der zum Kirchenlehrer erhoben wurde (1828); das Brüderpaar Kyrill und Methodius, die „Slawenapostel“ (1880), um zwei von insgesamt 17 solcher Heiligsprechungen zu erwähnen, die zusammen 23 Heilige betreffen.
Von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. jeweils nur einmal genützt
Obwohl Papst Johannes Paul II. mehr Heilige und Selige proklamierte als alle seine Vorgänger zusammen, tat er dies nur ein einziges Mal in Form einer „gleichwertigen Kanonisierung“. Sie betraf drei 1619 von den ungarischen Calvinisten ermordete Priester. In allen anderen Fällen fanden ordentliche Verfahren mit dem Nachweis von mindestens einem Wunder für die Seligsprechung und einem weiteren für die Heiligsprechung statt, das sich nach der Seligsprechung ereignet haben muß. Auch Benedikt XVI. wandte diese Form nur einmal am 10. Mai 2012 für die genannte Heilige Hildegard von Bingen an.
Ganz anders Papst Franziskus. In seinem kurzen Pontifikat nahm er bereits zwei „gleichwertige“ Heiligsprechungen vor: die erste am 9. Oktober 2013 betraf die Franziskaner-Tertiarin und Mystikerin Angela von Foligno (1248–1309); die zweite am 17. Dezember 2013 betraf den Jesuiten Petrus Faber (1506–1546).
Leo XIII.: Kanonisierung von Heiligen des ersten Jahrtausends
Am 2. April wird er diese Form ein drittes Mal verwenden, um drei neue Heilige zu kanonisieren, darunter mit Anchieta einen weiteren Jesuiten aus der Frühzeit des Ordens. Zahlenmäßig wird Franziskus darin nur von Papst Leo XIII. übertroffen, der acht Heilige durch „gleichwertige Kanonisierung“ zu den Altären erhob, allerdings im Laufe von 20 Jahren und ausschließlich Heilige des ersten christlichen Jahrtausends.
Bei Papst Franziskus werden es mit dem 27. April deren sechs sein. Am Barmherzigkeitssonntag wird neben Johannes Paul II., der nach einem ordentlichen Verfahren heiliggesprochen wird, auch der Papst Johannes XXIII. (1958–1963) heiliggesprochen, ohne ein Wunder, dafür pünktlich zum 50-Jahrjubiläum des Zweiten Vatikanischen Konzils. Eine aufsehenerregende und umstrittene Entscheidung. Die Heiligsprechung Johannes XXIII. wird als kirchenpolitische Maßnahme wahrgenommen. Zudem wurde die Form der „gleichwertigen Kanonisierung“ bisher ausschließlich Heiligen zuteil, die bereits seit Jahrhunderten tot sind. Die „jüngsten“ Heiligen dieser Form starben im 17. Jahrhundert. Der Durchführung eines ordentlichen Verfahrens hätte nichts entgegengestanden, außer die Tatsache, daß bis zum gewünschten Termin nicht der Nachweis eines zweiten Wunders erbracht werden konnte.
Ausreizung der päpstlichen Vollmachten durch „Bischof von Rom“
„Papst Franziskus liebt die Selbstbezeichnung als Bischof von Rom, schöpft jedoch seine Vollmachten als Kirchenoberhaupt der Katholischen Kirchen vollkommen aus, auch in der Politik der Heiligsprechungen. Eine besonders delikate Politik, denn bei allen Meinungsunterschieden zwischen Theologen, betrifft die Heiligsprechung – im Gegensatz zur Seligsprechung – auch das unfehlbare Lehramt der Kirche“, so Magister.
In einer vom damaligen Kardinal Joseph Ratzinger unterzeichneten lehramtlichen Note zum Motu proprio Ad tuendam fidem von Johannes Paul II. von 1989 und fester Bestandteil desselben, wird die „Kanonisierung der Heiligen“ ausdrücklich in einem Atemzug mit anderen Lehren genannt, die „unfehlbar“ von der Kirche „auf definitive Weise“ verkündet wurden, wie das nur Männern vorbehaltene Priestertum, die Unrechtmäßigkeit der Euthanasie, der Prostitution und der Unzucht, die Rechtmäßigkeit der Wahl eines Papstes, die Abhaltung eines Ökumenischen Konzils oder die Erklärung von Leo XIII. über die Ungültigkeit anglikanischer Weihen.
Heiligsprechungen betreffen Unfehlbarkeit des kirchlichen Lehramtes
Die Frage des unfehlbaren Lehramtes wird durch die wunderlose Heiligsprechung von Johannes XXIII. berührt. Ein ordentliches Verfahren wurde grundlos abgebrochen und statt dessen lapidar auf den „Ruf der Heiligkeit“ verwiesen, der die Gestalt des Papstes umgebe. Der „Ruf“, Gnaden zu erwirken, ersetze die Notwendigkeit eines kanonisch anerkannten Wunders.
Eine Vorgangsweise, die an ein Schnellverfahren unter Umgehung der geltenden Bestimmungen erinnert und die Frage nach dem Cui bono aufwirft. Papst Franziskus reizt seine Vollmachten maximal aus mit dem Beigeschmack, daß der Schaden durch die Schaffung eines Präzedenzfalles den Nutzen für die Kirche deutlich überwiegt.
Text: Settimo Cielo/Giuseppe Nardi
Bild: Settimo Cielo/Wikicommons