(Rom) Papst Franziskus warnte in seiner Predigt am Hochfest der Erscheinung des Herrn vor den Sirenengesängen und Mittelmäßigkeit. Der traditionsverbundene Priester Don Antonio Ucciardo griff diese Warnung auf, um etwas konkreter zu benennen, woher die Sirenengesänge dem Schiff des Petrus heute drohen. Die Sirenen seien nicht mehr nur auf ihrer Insel und versuchen das Kirchenschiff an die Klippen zu locken, damit es dort zerschellt. Die Sirenen seien an Bord des Schiffes und versuchen den Kurs in tödliche Richtung zu beeinflussen. Die Kirchenväter haben jedoch den Odysseus-Mythos genützt, um eine sichere Anleitung zu bieten, den falschen Gesängen zu widerstehen.
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Die Faszination der Sirenen
von Don Antonio Ucciardo
„Wo ist das Leben, das wir verloren haben, während wir lebten? Wo ist die Weisheit, die wir verloren haben in unserem Wissen? Wo ist das Wissen, das wir verloren haben in der Information? Die Umschwünge des Himmels in zwanzig Jahrhunderten haben uns ferner gerückt von Gott und uns näher gebracht an den Staub.“
Mit diesen Worten beschrieb einer der aufmerksamsten Beobachter der Kultur (und des Glaubens) des 20. Jahrhunderts, Thomas Stearns Eliot, 1934 das menschliche Dasein. In seiner Lyrik nimmt er bereits wahr, was sein würde. Und es konnte für ihn kaum anders sein, denn das Christentum ist ein Drama, das in der Geschichte lebt. Ein Drama, das bei jenen Heiterkeit auslösen muß, die den Glauben nur als ein passendes oder unpassendes ständiges Lächeln verstehen. Das Christentum bietet wahre Freude, allerdings zu einem Preis, der ganz göttlich und ganz menschlich zugleich ist. Er bietet die Freude wahrer Freiheit, wie Christus uns verheißen hat. Eine Freiheit, die nichts mit der Freiheit zu tun hat, die die Welt meint.
In seiner Predigt am Dreikönigsfest (Erscheinung des Herrn) sagte Papst Franziskus:
„Die heiligen Drei Könige, die Sterndeuter aus dem Osten „lehren uns, uns nicht mit einem mittelmäßigen Leben, mit dem Kleinem zufrieden zu geben, sondern uns immer faszinieren zu lassen vom Guten, Wahren und Schönen …, von Gott, der all das in immer größerer Weise ist! Und sie lehren uns, uns nicht vom Schein betrügen zu lassen, von dem, was für die Welt groß, weise und mächtig ist. Man darf hier nicht stehen bleiben. Es ist wichtig, den Glauben zu bewahren. In dieser Zeit ist das ganz wichtig: den Glauben zu bewahren. Man muss weiter gehen, jenseits des Dunkels, jenseits der Faszination der Sirenen, jenseits der Weltlichkeit, die heute so viele Ausdrucksformen hat, man muss weiter gehen nach Bethlehem, dorthin, wo in der Einfachheit eines Hauses der Peripherie, bei einer Mutter und einem Vater voller Liebe und Glaube, die Sonne aus der Höhe erstrahlt, der König des Universums. Nach dem Beispiel der Sterndeuter wollen wir mit unseren kleinen Lichtern das Licht suchen und den Glauben bewahren. So sei es.“
Was haben die Sirenen mit dem christlichen Glauben zu tun?
Was aber haben die Sirenen mit dem dramatischen Ringen um den christlichen Glauben und mit der Freiheit zu tun? Der Vergleich des Papstes ist von außergewöhnlicher Eloquenz. Im kollektiven Bewußtsein, zumindest dem mit einer soliden Schulbildung, rufen sie sofort die Odyssee in Erinnerung.
Nur wenige wissen aber, daß der griechische Mythos der Sirenen nicht nur bei Homer, sondern auch anderen Autoren vorkommt. Auch die Kirchenväter und führende Theologen der ersten christlichen Generationen beschäftigten sich mit ihnen.
Die Sirenen, also die „Verführerinnen“ symbolisieren den Tod. Sie sind Todesdämonen. Den Tod verabreichten sie über zweierlei Wege: die Lust und die Wissenschaft. Erst als sich schrittweise Homers Darstellung der Sirenen durchsetzte, schlüpften sie im allgemeinen Bewußtsein in das Kleid der attraktiven, faszinierenden Frau. Homer läßt zwar erkennen, daß die Seeleute, die angelockt vom Gesang der Sirenen auf der Insel anlegen, den Tod finden, sagt aber nicht wie. Jedenfalls dienten sie bei Homer den Sirenen nicht mehr als Nahrung.
Kirchenväter: Sirenen bringen den Tod durch Lust und Wissenschaft
Die christlichen Theologen der frühen Zeit kannten noch andere Sirenen-Darstellungen der Antike. Sie bedienten sich dieser mythologischen Figur, um darzustellen, daß das Vergnügen und die Wissenschaft – also etwas grundsätzlich Akzeptables und etwas Erstrebenswertes – auch zum Tod führen können.
Auf der Grundlage griechischer Hiob-Übersetzungen und anderer Propheten wurden die Sirenen als Nachtvögel dargestellt, die in Wüstengegenden hausen und dämonischer Natur sind. Mit ihrem süßen und tödlichen Gesang locken sie die Seelen in den Abgrund, damit sie dort von den Wölfen gefressen werden, wie der heilige Hieronymus schreibt.
Was die Überlieferung uns sagen will, findet sich sehr gut durch den heiligen Ambrosius zusammengefaßt, der den Odysseus-Mythos aufgreift:
„Die Sirenen […], wie uns die heidnischen Geschichten übermitteln, waren junge Frauen, die mit lieblicher und verlockender Stimme sangen und die Schiffsreisenden dazu verführten, fasziniert von ihrem Gesang, ihre Schiffe zum Ufer auf die Klippen zuzusteuern […]. Auf dieselbe Weise lockt uns die Süßigkeit der Welt mit den Verlockungen des Fleisches, um uns zu täuschen“ (Kommentar zum Psalm 43,75).
„Um sich nicht von den Lockungen der Lüste betören zu lassen und in die Gefahr der Lust hineinzusteuern“ wie Odysseus, müsse man „nicht mit physischen Stricken an den Mastbaum gebunden sein“, sondern, so der Kirchenvater, „mit geistigen Banden an das Kreuzesholz geheftet werden“, indem man auf die Stimme Christi hört.
Der Mastbaum ist das Kreuz Christi, das Schiff ist die Kirche
Der heilige Maximus von Turin schreibt: „Christus unser Herr wurde ans Kreuz geschlagen, um die Menschheit vor dem Schiffbruch der Welt zu retten“ (Predigt 49 über das Kreuz des Herrn, 1).
Die Worte des Papstes beziehen sich auf die einzelnen Gläubigen, auf unsere armes Leben, hin- und hergerissen zwischen dem Drang nach Höhenflügen und der ständigen Versuchung durch die Mittelmäßigkeit.
Doch die Worte können nicht anders, als sich auch auf die Gesamtheit der Katholiken zu beziehen, weil die Gesamtheit den Teil trägt und jeder Einzelne auch Teil der Gesamtheit ist. Wir haben nämlich nicht 1,2 Milliarden Kirchen, sondern 1,2 Milliarden Katholiken in einer Kirche. Und jeder Einzelne muß sich dieser Kirchenzugehörigkeit bewußt sein und in sich das Mysterium der Kirche tragen. Von der Kirche aber erhält der Einzelne die Gnade, die nötig ist, um nicht Schiffbruch zu erleiden und nicht den Sirenengesängen zu erliegen. Die beiden Begriffe: Schiff und Christenheit sind auch in unserer heutigen Zeit treffende Synonyme.
Auf der einen Seite das Schiff, das durch die Wellen gebeutelt wird, auf der anderen Seite die Christen, die nicht auf den Mastbaum zu schauen scheinen, wie der heilige Ambrosius in Anlehnung an den Odysseus-Mythos empfiehlt, sondern fasziniert sind vom Gesang der Sirenen auf den Klippen.
Haben diese Sirenen ein Gesicht?
Wir dürfen uns nicht selbst betrügen. Papst Johannes Paul II. schrieb 1993 in Veritatis splendor über einige „grundlegende Fragen der kirchlichen Morallehre“:
„Nachdem die Idee von einer für die menschliche Vernunft erkennbaren universalen Wahrheit über das Gute verlorengegangen war, hat sich unvermeidlich auch der Begriff des Gewissens gewandelt; das Gewissen wird nicht mehr in seiner ursprünglichen Wirklichkeit gesehen, das heißt als ein Akt der Einsicht der Person, der es obliegt, die allgemeine Erkenntnis des Guten auf eine bestimmte Situation anzuwenden und so ein Urteil über das richtige zu wählende Verhalten zu fällen; man stellte sich darauf ein, dem Gewissen des Einzelnen das Vorrecht zuzugestehen, die Kriterien für Gut und Böse autonom festzulegen und dementsprechend zu handeln. Diese Sicht ist nichts anderes als eine individualistische Ethik, aufgrund welcher sich jeder mit seiner Wahrheit, die von der Wahrheit der anderen verschieden ist, konfrontiert sieht. In seinen äußersten Konsequenzen mündet der Individualismus in die Verneinung sogar der Idee einer menschlichen Natur“ (Veritatis splendor, 32).
Die Sirenen haben ein Gesicht
Wenn die Sirenen außerhalb der Kirche geblieben wären, auf ihren Klippen, könnten wir sie erkennen, unterscheiden, jede einzelne mit Namen, als Ausdruck von Ideologien samt ihren Strömungen. Sie befinden sich inzwischen aber auf dem Schiff, an Bord, und versuchen unseren festen Blick auf den Mastbaum des Kirchenschiffes, das Kreuz, wegzulenken. Sobald wir aber den sicheren Blick auf das Kreuz abwenden, läßt unsere zerbrechliche Natur uns den Gesang der Sirenen hören und von ihren Verlockungen verführen zu lassen.
Vor allem wenn uns deren Melodie gar nicht so antichristlich zu klingen scheint, wie sie beschrieben wird. In ihrem Liedtext häufen sich Worte wie „Liebe“, „Gerechtigkeit“, „Brüderlichkeit“ und „Rechte“. Warum also sollten nicht auch wir dieses Lied singen?
Jeder muß sich fragen, ob er sich mit seiner Mittelmäßigkeit zufrieden gibt. Jeder muß sich aber auch fragen, ob diese Mittelmäßigkeit nicht auch dazu führt, daß auch jener Glauben mittelmäßig wird, den alle, mit Petrus, bewahren müssen. Die Rede ist von Salz und Sauerteig, aber auch von der Gefahr, daß Salz und Sauerteig an Qualität verlieren können. Die äußere Form bleibt, doch der Inhalt stimmt nicht mehr. Der Mittelmäßige wird zum Verführten und wird selbst zum Verführer.
Das Schiff des Petrus segelt weiter, es ist das Schiff des Herrn. Es wird auch nach uns weitersegeln. Entscheidend für den Einzelnen ist jedoch, daß er in den sicheren Hafen gelangt. Es ist keineswegs gesagt, daß dem so sein wird. Vielleicht wäre der Zeitpunkt gekommen, die allgemeine Euphorie abzulegen und die Warnung vor den Sirenengesängen ernst zu nehmen. Wo anfangen? Zum Beispiel damit, zu verhindern, daß die Zukunft unserer Kinder mittelmäßig sein wird. Wenn wir noch einen Funken christlicher Würde, eine Sehnsucht nach der wahren Freiheit vom Konformismus und der Logik der Macht dieser Welt haben, dann werden wir uns auflehnen und diese gleichmachende Mittelmäßigkeit dieser Welt meiden, uns von ihr abwenden, ja sie verachten und unseren Blick sicher und fest auf das Kreuz richten, um den verführerischen Sirenengesängen nicht zu erliegen.
Das Schiff der Kirche segelt in diesem Moment der Weltgeschichte durch enge, gefährliche Gewässer, umgeben von todbringenden Klippen. In diesem historischen Moment und mit dieser Fahrt erneuert sich das Heilsdrama für die Menschheit, vor allem aber ganz konkret für uns, die wir heute und jetzt leben. Nicht für die anderen, die vor uns lebten und jene, die noch kommen werden. Es geht nicht um eine abstrakte Erörterung, sondern um das Heil – meines und Deines.
Einleitung/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Ars