(Vatikan) Am 28. Januar, dem Gedenktag des heiligen Thomas von Aquin (1225–1274) übermittelte Papst Franziskus den Teilnehmern der 18. Öffentlichen Sitzung der Päpstlichen Akademien eine Grußbotschaft. Die Sitzung ist dem Thema „Oculata fides. Die Wirklichkeit mit den Augen Christi lesen“ gewidmet. Ausgehend von dieser Botschaft versucht der Religionssoziologe Massimo Introvigne der Frage nach dem Wahrheitsbegriff bei Papst Franziskus nachzugehen.
Der Papst nützte die Gelegenheit um auf seine Definition der Wahrheit zurückzukommen, die in seinem noch kurzen Pontifikat bereits für Aufsehen gesorgt hat. Für Jubel bei Atheisten und Freimaurern wie Eugenio Scalfari, für Empörung bei glaubenstreuen Katholiken, mit dem Beigeschmack, Applaus von der falschen Seite zu erhalten.
Wahrheitbegriff von Lumen fidei identisch mit Evangelii Gaudium?
Papst Franziskus verweist darauf, daß er sowohl mit der Enzyklika Lumen fidei als auch mit dem Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium „einladen wollte über die ‚leuchtende‘ Dimension des Glaubens und über die Verbindung zwischen Glauben und Wahrheit nachzudenken, nicht nur mit den Augen des Verstandes, sondern auch mit jenen des Herzens, das heißt aus der Perspektive der Liebe“.
Papst Franziskus legt damit nahe, daß es keinen Widerspruch zwischen dem Wahrheitsbegriff von Lumen fidei, der „vierhändig“ geschriebenen, da noch von Benedikt XVI. vorbereiteten Enzyklika und jenem in dem für den neuen Papst typischen Stil verfaßten Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium gibt. In beiden Dokumenten wird der Relativismus kritisiert. In Lumen fidei heißt es in der Sprache Benedikts XVI.: „Heute wird die Wahrheit oft auf eine subjektive Authentizität des Einzelnen reduziert, die nur für das individuelle Leben gilt“ (LF 34) Und weiter: „Der Glaube ist keine Privatsache, keine individualistische Auffassung, keine subjektive Meinung, sondern er geht aus einem Hören hervor und ist dazu bestimmt, sich auszudrücken und Verkündigung zu werden. Denn ‚wie sollen sie an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie sollen sie hören, wenn niemand verkündigt?’ (Röm 10,14)“ (LF 22).
Relativismuskritik mit welcher Schlußfolgerung?
In Evangelii Gaudium beklagt Papst Franziskus „eine Schwächung des Bewusstseins der persönlichen und sozialen Sünde und eine fortschreitende Zunahme des Relativismus, die Anlass geben zu einer allgemeinen Orientierungslosigkeit“. Und weiter: „Während die Kirche auf der Existenz objektiver, für alle geltender moralischer Normen besteht“ führt der Relativismus „in eine erschreckende Oberflächlichkeit, wenn es darum geht, die moralischen Fragen anzugehen“ (EG 64).
Der Hinweis auf die Kontinuität zwischen den beiden Dokumenten soll offensichtlich der Kritik entgegenwirken, die Papst Franziskus ein Abgehen von der Anklage Benedikts XVI. gegen den Relativismus vorwirft. Papst Franziskus wiederholt in seiner Botschaft an die Päpstlichen Akademien die Kritik Benedikt XVI., verweist aber gleichzeitig, daß eine allgemeingültige Wahrheit „uns Angst macht, weil wir sie mit dem unnachgiebigen Aufnötigen der Totalitarismen gleichsetzen“. Die vorherrschende Meinung verknüpfe eine für alle gültige Wahrheit mit dem Totalitarismus und lehne sie deshalb ab. „Wenn die Wahrheit aber die Wahrheit der Liebe ist, wenn es die Wahrheit ist, die sich der persönlichen Begegnung mit dem Anderen und den anderen öffnet, dann bleibt sie frei von der Abschließung nur für den Einzelnen und kann Teil des Gemeinwohls sein.“
Zwei Wege zur Wahrheit?
Gibt es also eine Wahrheit, die aber auf zwei verschiedenen Wegen erreicht werden kann? Und welche sind diese beiden Wege? Einer ist der Weg des Verstandes und der andere ist der Weg der Liebe. Papst Franziskus scheint unzweideutig dem Weg der Liebe den Vorzug zu geben. Der Weg der Liebe birgt jedoch die Gefahr des Relativismus in sich, wenn man sich allein auf ihn verläßt. Der Weg des Verstandes birgt die Gefahr einer Verhärtung in sich, wird er ohne die Liebe gegangen. So hat es die Kirche immer gelehrt, indem sie nicht von zwei Wegen, sondern letztlich nur von einem einzigen Weg zur Wahrheit spricht.
Papst Franziskus betont, daß sich die Kirche „auf das Wesentliche konzentrieren“ müsse, noch viel mehr als bisher und das christliche Angebot „vereinfachen“ müsse, um damit die vielen Fernstehenden zu erreichen. „Das bedeutet nicht, daß dadurch der Tiefgang verlorengehen soll und schon gar nicht die Wahrheit“, wie Papst Franziskus in Evangelii Gaudium schreibt, so der Religionssoziologe Massimo Introvigne.
Wird das vom Papst genannte Ziel jedoch erreicht? Ist die „Dosierung“ zwischen dem Weg des Verstandes und dem Weg der Liebe angemessen? Oder geht jede „Simplifizierung“ zu Lasten der Glaubenswahrheit?
Text: NBQ/Giuseppe Nardi
Bild: Pontificia Accademia PAV