(Rom) In seiner Analyse des neuen Apostolischen Schreibens Evangelii gaudium macht der Vatikanist Sandro Magister zwei Punkte aus, in denen sich Papst Franziskus am deutlichsten von seinen Vorgängern im Papstamt unterscheidet: mehr Autonomie für die Bischofskonferenzen und mehr Raum für die verschiedenen Kulturen. Magister nennt das die „föderalistische Option“ des Papstes. Ein Option, vor der Joseph Kardinal Ratzinger eindringlich warnte.
Vor allem der größere Handlungsspielraum und mehr Zuständigkeiten für die Bischofskonferenzen fand in den Medien Beachtung und löste in einigen bischöflichen Kreisen Genugtuung aus. Schließlich geht es darin um den Primat des Papstes und die kollektive Macht der Ortsbischöfe eines Staates.
Franziskus will Bischofskonferenzen stärken und verweist auf Motu proprio Apostolos suos
Papst Franziskus spricht in Evangelii gaudium Papst Johannes Paul II. das Verdienst zu, den Weg für eine neue Form der Primatsausübung geöffnet zu haben. Gleichzeitig beklagt der regierende Papst aber, daß man auf diesem Weg kaum vorwärts gekommen sei. Er aber sei entschlossen, eine neue Form des Primats voranzutreiben, da er eine Aufgabe des „Bischofs von Rom“ darin sieht, „offen zu bleiben für die Vorschläge, die darauf ausgerichtet sind, daß eine Ausübung meines Amtes der Bedeutung, die Jesus Christus ihm geben wollte, treuer ist und mehr den gegenwärtigen Notwendigkeiten der Evangelisierung entspricht“ (EG32).
„Aber mehr als zur Rolle des Papstes, zu der Franziskus vage bleibt und bisher vielmehr die Entscheidungsbefugnisse maximal auf sich konzentrierte, läßt Evangelii gaudium bei den Zuständigkeiten der Bischofskonferenzen eine Wende erahnen“, so Magister.
Im Paragraph 32 des Apostolischen Schreibens sagt der Papst:
Das Zweite Vatikanische Konzil sagte, dass in ähnlicher Weise wie die alten Patriarchatskirchen „die Bischofskonferenzen vielfältige und fruchtbare Hilfe leisten [können], um die kollegiale Gesinnung zu konkreter Verwirklichung zu führen“. Aber dieser Wunsch hat sich nicht völlig erfüllt, denn es ist noch nicht deutlich genug eine Satzung der Bischofskonferenzen formuliert worden, die sie als Subjekte mit konkreten Kompetenzbereichen versteht, auch einschließlich einer gewissen authentischen Lehrautorität. Eine übertriebene Zentralisierung kompliziert das Leben der Kirche und ihre missionarische Dynamik, anstatt ihr zu helfen.
In der Fußnote verweist Papst Franziskus dabei auf das Motu proprio Apostolos suos von Johannes Paul II. von 1998 über die theologische und die rechtliche Natur der Bischofskonferenzen. Ein Verweis, der erstaunt, da er einen offenen Widerspruch darstellt.
Doch Apostolos suos verlangt das genaue Gegenteil
Johannes Paul II. erkannte den Bischofskonferenzen nämlich ausdrücklich lediglich eine praktische Aufgabe zu als Beratungsgremium und als Hilfsorgan für die einzelnen Bischöfe, die ohne eigene Autorität zwischen der Gesamtheit aller Bischöfe in der Einheit mit dem Papst und dem einzelnen Bischof angesiedelt sind. Die Gesamtheit aller Bischöfe in der Einheit mit dem Papst bilden die einzige, theologisch anerkannte Form der „Kollegialität“, während jeder Bischof in seiner Diözese die Autorität in Einheit mit Petrus allein ausübt. Eine kollektive Autorität der Bischofskonferenzen für einen ganzen Staat oder einen Teil davon kennt die Kirche nicht. Das Kirchenrecht ist dazu eindeutig.
Gerade das Motu proprio Apostolos suos, auf das Papst Franziskus verweist, schränkt „die authentische Lehrautorität“ stark ein, die Papst Franziskus sagt, den Bischofskonferenzen gewähren zu wollen. Es schreibt vor, daß die Bischöfe, wenn sie schon als Bischofskonferenz Lehraussagen treffen wollen, dies nur einstimmig und in Einheit mit dem Papst und der Gesamtheit der Kirche tun können. Das Dokument schließt ausdrücklich Formen der Autoritätsübertragung aus. Eine Lehraussage kann zwar auch mit „qualifizierter Mehrheit“ getroffen werden, dann allerdings nur unter der Voraussetzung, daß diese vorab vom Heiligen Stuhl geprüft und genehmigt wurde.
Spaltungen und neuen Gallikanismus verhindern
Das Motu proprio Apostolos suos, im Gegensatz zum Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium ein verbindlicher Rechtsakt, will ausdrücklich verhindern, daß Bischofskonferenzen Lehraussagen treffen, die im Widerspruch zu jenen anderer Bischofskonferenzen stehen oder im Widerspruch zum universalen Lehramt der Kirche.
Eine weitere Gefahr, die das Motu proprio Johannes Pauls II. verhindern will, ist das Entstehen von Spaltungen und Gegensätzen zwischen einzelnen Nationalkirchen und zwischen Rom, wie es zum Beispiel in Frankreich mit dem Gallikanismus der Fall war und anderen nationalkirchlichen Bestrebungen im Laufe der Kirchengeschichte, etwa im 20. Jahrhundert den Versuchen der kommunistischen und nationalsozialistischen Diktaturen, die Landeskirchen von Rom abzutrennen und regimehörige Nationalkirchen zu errichten, wie es die Volksrepublik China noch heute betreibt. Oder auch wie es als abschreckendes Beispiel bei den Orthodoxen mit einigen autokephalen Nationalkirchen der Fall ist, oder dem protestantischen Staatskirchentum.
Apostolos suos von Joseph Kardinal Ratzinger geprägt
Das Motu proprio Apostolos suos trägt die Unterschrift von Johannes Paul II, „beruht aber auf der Ausarbeitung seines treuen Glaubenspräfekten Joseph Kardinal Ratzinger“, so Magister. Bekanntlich stand Kardinal Ratzinger schon frühzeitig den Bestrebungen der Bischofskonferenzen ablehnend gegenüber. Deren Drang, Macht an sich zu ziehen, und sich als eigenständige Entscheidungsebene zu etablieren, bezeichnete er als „eine weitere jener paradoxen Folgen der Nachkonzilszeit“. Vor allem erkannte er einige Entscheidungen der Bischofskonferenzen im deutschen Sprachraum Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre als bedenklich. Entscheidungen, die abschreckende Wirkung auf ihn hatten.
Wegen seines feinen Gespürs für die menschliche Neigung zur Macht, warnt der Kardinal 1985 im Gesprächsbuch Zur Lage des Glaubens von Vittorio Messori kategorisch vor einer Entwicklung der Kirche zu einer „Art Föderation von Nationalkirchen“. Er erkannte darin eine verhängnisvolle Entwicklung für die Kirche und machte in den Bischofskonferenzen das Vehikel und die Versuchung aus. „Die nationale Ebene ist keine kirchliche Größe“, so Kardinal Ratzinger, der im italienisch geführten Interview mit „nationaler Ebene“, die Staaten meinte.
Bischofskonferenzen „ersticken“ die Bischöfe
Statt „die Rolle und die Verantwortung des Bischofs [zu] stärken“, indem das II. Vatikanum „das Werk des I. Vatikanums wiederaufnahm und vervollständigte“, würden die Bischofskonferenzen mit ihren bürokratischen Aufbauten die Bischöfe, deren Auftrag und Autorität „ersticken“, beklagte der spätere Papst Benedikt XVI. genau 20 Jahre vor seiner Wahl die eigendynamische Fehlentwicklung von Bischofskonferenzen.
Es mag schön sein, immer gemeinsam zu entscheiden, doch die Wahrheit ist nicht das Ergebnis von Abstimmungen, so der Kardinal, der im Gesprächsbuch einige Gefahren kollektiver Entscheidungen aufzeigte, wie das Auftreten von Pressure Groups, die Bereitschaft einiger für die Eintracht nachzugeben, Konformismus, die Suche nach einem gemeinsamen Nenner statt nach der Wahrheit mit der Gefahr irrtumsanfälliger, verkürzter oder platter, toter Dokumente.
Johannes Paul II. und Benedikt XVI. waren sich der „bescheidenen“ Eignung der meisten Bischöfe bewußt
„Johannes Paul II. und nach ihm Benedikt XVI. erkannten, daß die durchschnittliche Eignung der Bischöfe weltweit bescheiden ist und ebenso eines Großteils der Bischofskonferenzen“ als Summe dieser Mediokrität, so Magister, „und entsprechend handelten sie, indem sie selbst versuchten, Führer und vor allem Vorbild für alle zu sein“ und in einigen Fällen, indem sie sogar direkt und energisch eingriffen und die Marschrichtung vorgaben.
Deutschland liefert gerade Paradebeispiel in welche Richtung mehr Macht (ver)führen würde
„Mit Franziskus könnte den Bischofskonferenzen hingegen vielleicht größere Autonomie zuerkannt werden. Mit den vorhersehbaren Auswirkungen und Rückschlägen, für die Deutschland gerade ein frisches Beispiel ist, wo Bischöfe und hochrangige Kardinäle öffentlich über die verschiedensten Themen streiten, von Verwaltungsfragen bis zur Zulassung wiederverheiratet Geschiedener zu den Sakramenten“ durch Ankündigung eigenmächtiger und eigenwilliger Wege, so Magister. Womit Deutschland einmal mehr jenes „abschreckende Beispiel“ liefert, das Joseph Kardinal Ratzinger frühzeitig als gefährliche Versuchung in eine neue Form von schismatisierendem Nationalkirchentum erkannte.
Text: Settimo Cielo/Giuseppe Nardi
Bild: Settimo Cielo