(Rom) In seinem gewohnten Sonntagssermon kehrte der Atheist Eugenio Scalfari auf seinen persönlichen „Draht“ zu Papst Franziskus zurück, der dem bekannten linken Journalisten aus alter Freimaurerfamilie im vergangenen Sommer einen Brief schrieb und ein Interview gewährte (siehe eigene Berichte Gibt es keine absolute Wahrheit? – Mißverständlicher Papstbrief an Atheisten Eugenio Scalfari und Wahrheit und Gewissen – Die Mißverständnisfalle im Dialog mit Ungläubigen auch Christus ist keine Option unter vielen, schon gar nicht für seinen Stellvertreter auf Erden – Warum uns dieser Papst nicht gefällt). Scalfari behauptete gestern in seinem Kommentar erneut, daß Papst Franziskus „die Sünde de facto abgeschafft“ habe.
Scalfari: „Papst hat mit Evangelii Gaudium de facto die Sünde abgeschafft“
Der Gründer der Tageszeitung La Repubblica beruft sich dabei nicht auf den direkten Kontakt mit dem Papst, sondern auf dessen jüngst veröffentlichtes Apostolisches Schreiben. Die „Abschaffung der Sünde“, so Scalfari, sei in Evangelii Gaudium enthalten. Eine „Abschaffung“, die mittels zweier Instrumente geschehe: Einmal durch die Gleichsetzung des von Christus geoffenbarten christlichen Gottes mit Liebe, Barmherzigkeit und Vergebung. Und dann indem dem Menschen völlige Gewissensfreiheit zuerkannt wird.
Papst Franziskus hatte bereits in seinem Schreiben an Scalfari das Gewissen zur Letztinstanz menschlichen Handelns erhoben und diese Aussage in seinem Interview mit Scalfari später bestätigt. Die Antworten des Papstes wurden zwar von Scalfari selbst formuliert, doch das Schreiben gibt direkt die Worte des Papstes wieder. Das Interview, zunächst auf der Internetseite des Vatikans veröffentlicht, als wäre es Teil des päpstlichen Lehramtes, wurde zwar inzwischen entfernt, doch eine Distanzierung von der höchst umstrittenen, nicht katholischen Aussage erfolgte bisher nicht.
Strapazierte Barmherzigkeit
Die erneute Feststellung des bekannten Journalisten erscheint ungeheuerlich nach den Polemiken um die Authentizität der päpstlichen Aussagen. Scalfari läßt in der Frage der Gewissensfreiheit nicht locker, hatte er doch jubiliert über die Kernaussage des Papst-Interviews. Tatsächlich wäre die päpstliche Aussage, sofern sie so erfolgt ist, eine historische Sensation. Damit würde sich der Papst die in den vergangenen 300 Jahren von der Kirche mit gutem Grund verworfene und bekämpfte Grundthese der Freimaurerei zu eigen machen.
„Was soll man dazu sagen, außer daß es ein richtiges Durcheinander ist?“, schreibt heute die Tageszeitung Il Giornale. „Es ist reines Chaos, wenn man über das Christentum diskutieren will, indem man Jesus Christus in Klammern setzt. Scalfari erkennt an, daß das zentrale Argument des Lehramtes von Franziskus die Barmherzigkeit und die göttliche Vergebung sind. Gut: aber welche Notwendigkeit sollte es für diese Barmherzigkeit geben, wenn die Sünde abgeschafft wäre? Was müßte dann noch von Gott vergeben werden, wenn es keine Sünde mehr gibt?“
Scalfari läßt den Papst leben, schafft aber Christus ab
Die Auslegung Scalfaris, der als maßgeblichster und vor allem einflußreichster kirchenferner Deuter des Pontifikats von Papst Franziskus zu betrachten ist, wirft zahlreiche Fragen auf. Die meisten Vatikanisten, darunter auch Andrea Tornielli wagen nur einen Teil der Fragen zu stellen, indem sie Kritik an Scalfari üben. So meint Tornielli, daß Scalfari, um die Sünde abschaffen zu können, gleich das gesamte Lehramt des neuen Papstes abschaffen müsse: „Der Papst hat sich selbst viele Male als ‚Sünder‘ bezeichnet und spricht sehr oft von der Barmherzigkeit und der Sündenvergebung. Um die Barmherzigkeit Gottes zu erfahren, eines barmherzigen Gottes, der nie müde wird, zu vergeben, muß man sich der eigenen Grenzen bewußt sein, unserer Sünde, unserer Schwachheit, unseres Bösen und unserer Notwendigkeit nach Rettung, Vergebung, Liebe, Barmherzigkeit. Deshalb bedarf es des Bewußtseins, daß wir Sünder sind, und damit des genauen Gegenteils jener ‚Abschaffung‘ der Sünde, die Scalfari so effektheischend dem Papst zuschreibt“.
Scalfaris Berufung auf Papst Franziskus – Zustimmung durch Schweigen des Vatikans?
Damit ist aber erst eine Seite angesprochen. Unausgesprochen bleiben die Fragen an Papst Franziskus, der Scalfari – aufgrund welcher Kriterien – auserwählte, um ihm einen Brief zu schreiben. In diesem Brief ist bereits die umstrittene Neudefinition der Gewissensfreiheit als einer Art absoluter Norm enthalten. Scalfari bekräftigte die Aussage im Papst-Interview, das zwar von ihm formuliert, aber vorher von ihm dem Papst zur Genehmigung vorgelegt worden war. Eine Genehmigung, die vom Papst ausdrücklich erteilt wurde. Auch nach Kritik an der Aussage, die gegenüber einem Papst im kirchlichen Rahmen sehr schwierig ist, wurde bis heute keine Korrektur vorgenommen. Kann sich Scalfari also zu Recht auf Papst Franziskus berufen? Er tut es und solange der Vatikan dem nicht widerspricht, muß angenommen werden, daß diese Berufung mit Zustimmung des Papstes geschieht. Das aber würde prinzipielle Fragen von enormer Dimension aufwerfen. Denn dann stünde die Frage im Raum, was Papst Franziskus überhaupt unter Sünde versteht. Ebenso die Frage, wie der offensichtliche Widerspruch zwischen der Aussage über das Gewissen mit der Feststellung des Papstes in Einklang zu bringen ist, das zu verkünden, was im Katechismus der Kirche festgeschrieben ist.
Gott durch das Ich ersetzen
Vor allem aber tut sich im ambivalenten Verhältnis zwischen Papst Franziskus und Eugenio Scalfari ein erschreckender Abgrund auf. Einen Papst der Häresie zu beschuldigen ist nicht minder abgründig, wie Scalfari unter fiktiver und realer Berufung auf den Papst über Religion sprechen und dabei aber Christus ausklammern zu lassen. Beide Stoßrichtungen sind „gefährlich“, wie auch Il Giornale bemerkt. Der Atheist Scalfari scheint dabei, „sich ein maßgeschneidertes, fließendes und relativistisches Christentum zu zimmern“, so Il Giornale. Warum aber läßt ihn Papst Franziskus ungehindert so handeln. Immerhin erklärte der Papst erst vor kurzem wieder, sich schon auf die nächste Begegnung mit dem Doyen des linken Journalismus in Italien zu freuen. Denn auf Scalfaris Weg wird Gott letztlich durch das eigene Ich ersetzt. Da es einen Gott für den Atheisten nicht gibt, wird das Ich vergöttlicht und das Wort und die damit zusammenhängende Vorstellung von Gott und der Göttlichkeit umdefiniert. Und was meint der Papst dazu?
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Tempi