Sie ist 22 Jahre jung, arbeitet in einem Kindergarten und schießt Fotos, weil „die Orte so wunderschön sind“. Ihre erste Fotoausstellung ist der Stiftung Jerome Lejeune gewidmet, dem Entdecker des Down Syndroms: „Ein Arzt, der sich um Personen wie mich kümmerte“. Laura Borselli hat Letizias Geschichte erzählt.
„Ich muß mit Euch kommen, sonst bekomme ich keine Gratisfahrkarte“. Am Wochenende, an dem der neueste Film von Checco Zalone Premiere hat, ist Letizia Morini unter den Familienangehörigen hart umworben. Down-Kinder dürfen gratis ins Kino, ebenso die Begleitperson. Letizia ist sich vollkommen bewußt, daß sie die einzige Inhaberin des rechtmäßigen Privilegs ist. Sie kokettiert mit dieser Stellung, einem anderen Familienmitglied Gratiskarte zu verschaffen. Grundsätzlich ist das Wochenende für Letizia Zeit zum Entspannen. Wenn man die ganze Woche inmitten von Kleinkindern im Alter zwischen einem und zwei Jahren arbeitet, ist das Wochenende in jedem Fall heilig. Letizia genießt ihre Freizeit.
Maria Letizia ist heute 22 Jahre alt. Ihre Mutter, Ester, hatte eines Morgens im Krankenhaus verstanden, daß ihre Tochter das Down-Syndrom hat. Zuerst waren die Hormonturbinen, die auf Volldampf liefen und die Emotionen, die auf die Geburt folgten auf Höchststand. Zu Hause warteten zwei Töchter, Martina 6 Jahre und Johanna 3 Jahre, und eigentlich wollte sie nur entlassen werden, was die Ärzte aber nicht erlaubten. Viele Leute kamen damals zu Besuch. Heute erinnert sich jemand, daß es sogar verdächtig viele waren. Ester, eine Kunstgeschichtelehrerin, schaute ihre Letizia an und lachte mit ihrem Kind darüber, daß sie es nicht gerade superschön fand. Ausgemacht hatte es ihr nichts. Doch in jenen Tagen stimmte einiges nicht so ganz zusammen.
Dann eines Morgens kam ihr Mann sie besuchen. Seine roten Augen öffneten ihr mit einem Schlag die Augen. „Sie hat Down-Syndrom?“ Mann und Frau sprachen eine Weile nichts. Keiner sagte ein Wort. Verstanden haben sie sich dennoch, auch wortlos. „Es ist unsere Tochter. Sie bleibt bei uns.“ Als sie nach Hause darf, fragt Ester ihre beste Freundin: „Was wird aus ihr, wenn ich einmal nicht mehr bin?“ Die Freundin nahm sie beim Arm: „Denk nicht an diese Dinge. Wir werden daran denken, wenn es Zeit sein wird. Jetzt mußt du für das Heute leben, nicht für eine Zukunft, die du noch gar nicht kennst.“ Für Ester bedeutete der Satz, wie sie heute erzählt: „Mach alles der Reihe nach. Eine Sache nach der anderen.“
Die Wirklichkeit mit Letizia betrachten
Einige der Fotos von Maria Letizia werden ab 24. November zu sehen sein. Die Ausstellung trägt den Titel: „Die Wirklichkeit betrachten… mit Letizia“. Der Erlös aus dem Verkauf des Ausstellungskatalogs geht an die Stiftung Jerome Lejeune. Die Stiftung unterstützt die Down-Syndrom-Forschung.
Eine Sache nach der anderen und die Liste der zu erledigenden Dinge ist nicht anders als bei jedem anderen Neugeborenen. Der Kinderwagen, der Kindersitz für das Auto, die Windeln, die Milch. Ja, und dann ist da noch dieses eine Wort, das anfangs im Haus die Runde machte: Down. Nach wenigen Lebensmonaten wird Letizia am Herzen operiert. So geschieht es fast allen Kindern, die mit demselben Syndrom zur Welt kommen. Martina ist 6. Eines Morgens geht sie zur Mutter: „Down ist nicht eine Sache, die nur das Herz betrifft, stimmt´s?“
Ester und ihr Mann haben diesen Augenblick erwartet. Der Psychologe, der sie betreute, hatte ihnen empfohlen, zu warten, bis die Schwestern von Letizia von sich die Frage aufwerfen würden. Eine Sache nach der anderen eben. „Weißt du Martina, Down, das sind die Kinder, die haben Augen, die liegen etwas weiter auseinander, sie haben ein besonders große Zunge und der große Zeh steht weiter von den anderen Zehen ab. Und sie sprechen später als andere Kinder und sie gehen auch später als du oder deine Schwester zu gehen begonnen haben.“ Martina schaute ihre Mutter eine Weile an, dann lachte sie, wie sie immer lachte, wenn sie sich köstlich amüsierte. Sie warf den Kopf nach hinten und sagte mit vergnügtem Gesicht einen Lieblingssatz in jenem Alter: „Ach, immer so übertreiben! Die Letizia ist doch nicht so!“ Und dann kicherte sie beim Gedanken. Martina sah nicht eine Auflistung von Schwächen, die ihr die Mutter genannt hatte. Sie sah ihre Schwester. Und über die war sie begeistert.
Am 24. November wird Maria Letizia persönlich ihre erste Ausstellung eröffnen. Rund 100 Fotografien von ihr werden zu sehen sein, die von ihr gemeinsam mit ihren Eltern, ihren Schwestern und Freunden ausgewählt und vorbereitet wurden. Die Bilder zeige Orte, Personen, Gegenstände, den schneebedeckten Hafen, ein mit der Familie befreundetes Paar, Messer, Details einer Hauptspeise, Füße, Medikamente, Handtascheninnenleben. Die ausgewählten Aufnahmen stammen aus einem Fundus, der inzwischen auf etwa 7000 Stück angewachsen ist. Letizia kümmert sich selbst darum, die Aufnahmen vom Fotoapparat auf den Computer herunterzuladen und zu archivieren. Ihre Mutter kann es nicht. „Mit Computer lebe ich noch etwas auf Kriegsfuß“.
Der Augenblick, in dem es Knips macht
Letizia sitzt nicht vor dem Computer, um sich ihre Aufnahme oft anzuschauen. Im Gegenteil. Sie lebt ganz für den Augenblick, jene Sekunde, in der sie beim Fotoapparat abdrückt.
Wenn man sie nach dem Warum dieser Ausstellung fragt, die sie doch mächtig stolz macht, dann sagt sie: „Die Fotos mache ich und die Orte sind wunderschön. Ich liebe es, Fotos zu machen. Papa hat es mir beigebracht.“ Jener Papa, der eines Abends nach Hause kam mit einem teuren Fotoapparat. „Mir hätte ich den nie gekauft. Sagt er noch heute.“ Letizia hatte ihn bedrängt. Den ersten Fotoapparat hatten ihr ihre Schwestern zur Firmung geschenkt. Doch der reichte ihr nicht mehr aus. Ester war gar nicht begeistert über die Ausgabe ihres Mannes. „Der ist doch zu teuer. Und wenn er runterfällt?“.
In all den Jahren, ist ihr der Fotoapparat nie runtergefallen. Letizia nimmt ihn überall mit. Es gab schon Bekannte, die sie baten, bei deren Hochzeit zu fotografieren. Sie hat zugesagt. Aber nur für die Gruppenbilder und das Hochzeitsmahl. „In der Kirche macht man keine Fotos“, dekretiert Letizia und da gibt es kein Verhandeln oder Überzeugen. „Sie hat klare Vorstellungen und einen starken Willen“, sagt der Vater. „Und da kann sie ganz schön dickköpfig sein“, fügt die Mutter hinzu.
Seit 2008 arbeitet sie in einer staatlich anerkannten Privatschule mit Kindergarten und ‑krippe. Es ist die Schule, die sie selber besucht hat. Als sie die Pflichtschule absolviert hatte, stellte sich die Frage, was tun. Die Freunde wechselten an die verschiedenen Gymnasien. Die einzigen Schulen, die ausgerüstet waren, jemanden wie Letizia aufzunehmen, waren die Kunstschule und die Hotelfachschule. Es war aber nicht das, was die Eltern suchten. So beginnen sie sich nach einer Arbeit umzusehen. Die Zusammenarbeit mit dem Sozialdienst brechen die Eltern abrupt ab, als trotz mehrmaliger Aussprache immer nur ein einziger Vorschlag kam: eine Behindertenschule zu besuchen.
Dann kam das Angebot der Schule, dort zu arbeiten. Angestellt wird sie zunächst als nichtunterrichtende Hilfskraft. Heute assistiert sie den Lehrerinnen. Sie bringt die Kinder ins Bad, sie gibt ihnen zu Mittag das Essen ein, sie tröstet sie, wenn sie weinen, sie sorgt dafür, daß jedes Kind seine Jacke hat und übergibt sie den Eltern, die am Ende des Tages ihre Kinder abholen. Obwohl sie sonst mit dem Gedächtnis so ihre Probleme hat, weiß sie den Namen eines jeden Kindes und die der Eltern gleich dazu. Und dabei zögert sie keine Sekunde. Auf Nachfrage sagt Letizia, daß ihr die Arbeit gut gefällt. Die Kollegen? Einige sagen ihr mehr zu, andere weniger. Sie hält auch keineswegs mit ihrer Meinung zurück, wenn es um die Kindererziehung geht.
Letzia spricht gerne mit sich selbst. Bei der Arbeit allerdings nichts. Als sie ihre Arbeit angetreten hatte, wurde sie von ihrer Mutter eines Tages erwischt, wie sie im Kinderharten ein langes Selbstgespräch führte. Das gab Donnerwetter. Die Eltern sind kategorisch. „Das kann sie zu Hause machen, um sich zu entspannen. Aber nicht bei der Arbeit, und das weiß sie.“ Es kam nicht mehr vor. Einige Monate später wollte Ester ihre Tochter nach der Arbeit abholen. Bereits von der Ferne hörte Ester die unverkennbare Stimme ihrer Tochter. „Wir sind wieder soweit“, dachte die Mutter und war überzeugt, gleich ihre Tochter bei einem ausladenden Selbstgespräch zu erwischen. Doch dann sah Ester etwas ganz anderes. Als sie die Tür zum Saal öffnete, war Letizia von 20 Kindern umgeben, die alle um sie herumsaßen und ihr mucksmäuschenstill lauschten. Was sonst als laute Rotte herumtollte, hatte Letizia völlig unter Kontrolle.
Jerome Lejeune und die Ausstellung
Jerome Lejeune widmete sich den Down-Syndrom-Kindern. Die Familie sah einmal ein Foto des Arztes mit einem solchen Kind. „Und du hast es lange angeschaut“, sagt die Mutter zu Letizia. „Und dann hast du gesagt: ‚Das Kind sieht aus wie ich‘.“
Im vergangenen Jahr wurde eine Ausstellung über das Leben und die Arbeit Jerome Lejeunes gezeigt. Im Vorfeld kam die Anfrage um fünf Ecken, ob am Rande dieser Ausstellung nicht auch einige Fotos von Letizia gezeigt werden könnten. So begann auch für die Familie eine nähere Beschäftigung mit dem Kinderarzt und Genetiker. Lejeune war ein persönlicher Freund von Papst Johannes Paul II., der ihn in die Päpstliche Akademie für das Leben berief. Lejeune litt Zeit seines Lebens an dem, was er eine fatale Fehlentwicklung nannte, nämlich daß er mit seiner Entdeckung des Down-Syndroms die Tür zur vorgeburtlichen Tötung dieser Kinder aufgestoßen hatte. Durch seine Entdeckung wurde es möglich, die Kinder mit dem sogenannten Lejeune-Syndrom ausfindig zu machen und damit durch Abtreibung töten zu können. Heute ist der 1994 verstorbene Kinderarzt und Wissenschaftler ein „Diener Gottes“. Sein Seligsprechungsverfahren läuft.
„Das Echo auf Letizias Fotos war überwältigend. Die Stadtverwaltung war da, Schulklassen kamen und haben dann Letizia berührende Briefe geschrieben“ erzählt die Mutter. Die Fachliteratur sagt, daß man Kindern mit Down-Syndrom viele Anregungen geben soll, um ihre Entwicklung zu fördern. Das geht vom Schwimmen bis zum Reiten.
Für die Eröffnung ihrer ersten eigenen Ausstellung plant Letizia einen Umtrunk. Ihre Angaben, was zum Essen und zum Trinken bereitstehen soll, sind präzise. Bei den Getränken sagt sie: „Wasser und Prosecco für alle.“ Feste sind ihr sehr wichtig. Ihr Geburtstag am 17. April ist ein Ereignis, das jedes Jahr unter einem bestimmten Thema steht. Von den geladenen Gästen erwartet Letizia einen bestimmten Grad an Eleganz. Denselben, der auch für sie selbst gilt. Letizia hat eine Leidenschaft für Kleider. Sie pflegt ihren Körper minutiös. Gelernt hat sie es von ihren Schwestern. Für sie wurde eine Leidenschaft daraus.
Für die Ausstellungseröffnung wird sie sogar eine Ausnahme von ihrer Diät machen. Letizias Diät hält sich nicht mit lästigen Fragen nach Kohlenhydraten, Proteinen und Kalorien auf. Sie hat eine drakonische Methode und ißt immer nur die Hälfte dessen, worauf die Lust hätte. „Wenn ich auf eine ganze Pizza Lust habe, esse ich nur eine halbe. Oder ich esse nur den ersten oder den zweiten Gang“, erklärt sie, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt. Wenn sie dann monatlich auf die Waage steigt, ärgert sie schon mal eine Rundung zuviel. Nach einem Ausruf ist die Sache aber auch schon wieder erledigt. Es gilt: immer nur die Hälfte …
„Wir sind wirklich privilegiert“
Bei der Lejeune-Ausstellung lernten Letizia und ihre Eltern auch Pierluigi Strippoli kennen. Der Professor für angewandte Biologie an der Universität Bologna setzt mit seinen Forschungsprojekten die Arbeit Lejeunes fort. Er ist überzeugt, daß Trisomie 21 eines Tages geheilt werden kann. „Bis dahin hatten wir alle möglichen Studien gelesen, aber keine sprach von Heilung. Heute zielt fast alles, auf eine frühzeitige Erkennung von Trisomie 21 ab, um den Patienten nicht zu heilen, sondern ihn schnellstmöglich zu eliminieren, deshalb wurden wir besonders neugierig auf Professor Strippoli.“ Der Erlös der Ausstellung wird über die Stiftung ihm und seiner Forschung zugutekommen.
Nachdem Letizia geboren worden war, begegneten die Eltern einem Priester. Er sagte ihnen nicht, daß ihnen ihre Tochter viel Liebe schenken würde. Er sagte ihnen vielmehr, ihre Tochter sei fähig, viel Liebe zu empfangen. Sie seihen deshalb sogar „privilegiert“. Die Eltern haben ihrem Kind den Namen Maria Letizia gegeben, wörtlich Maria Freude. Jahre später begegneten sie dem Priester erneut und sie erzählten ihm, wie recht er doch hatte. „Wir sind wirklich privilegiert.“ Der Priester, es war Don Luigi Giussani, war zutiefst gerührt. „Und wir mit ihm, als wir seine Rührung sahen“, so Ester.
Die Eltern bemühen sich, um Letizia den Zaun abzutragen, den geschützten Bereich. Sie tun es mit Gelassenheit, Schritt um Schritt. Letizia weiß sich gut zu bewegen. Letizias ältere Schwester Martina ist inzwischen verheiratet. Ihr Mann arbeitet in einer Behindertengemeinschaft, von denen einige auch Down-Syndrom haben. Manchmal bietet ihm Letizia ihre Hilfe an. Natürlich als Mitarbeiterin.
Text: Tempi/Giuseppe Nardi
Bild: Maria Letizia Morini/Tempi