(Rom) Ein Brief und ein Aufsatz sorgen weltweit unter Katholiken für Diskussionen und einige Unruhe. Es ist einmal ein sehr persönlich gehaltener Brief der mexikanischen Katholikin und neunfachen Mutter Lucrecia Rego de Planas an Papst Franziskus. Und zum anderen eine scharfsinnige Analyse von zwei katholischen Intellektuellen aus Italien, des Rechtsphilosophen Mario Palmaro und des Journalisten Alessandro Gnocchi. Brief und Aufsatz haben große Zustimmung erfahren. Viele Katholiken sehen darin ihre eigenen Gedanken, Befürchtungen und Gefühle zum Ausdruck gebracht. Palmaro und Gnocchi wurden aber auch von Radio Maria entlassen und es gab teils heftige und teils untergriffige Kritik. An der Kritik fällt unangenehm eine fast kategorische Verweigerung auf, sich einer inhaltlichen Diskussion zu stellen. Hat der Papst recht mit seinen umstrittenen Aussagen? Sind diese Aussagen katholisch? Was bedeutet das für die Kirche und ihre Glaubenslehre? Welche Auswirkungen haben die Aussagen auf Katholiken in der Welt?
Gegen diese Kritik an der Kritik an Papst Franziskus ohne inhaltlich auf die aufgeworfenen Punkte einzugehen, wendet sich der Rechtsphilosoph Corrado Gnerre, der unter anderem an der Europäischen Universität Rom Philosophische Anthropologie lehrt. Am Beispiel einer Antwort des katholischen Journalisten Antonio Socci, „die keine ist“, zeigt Gnerre auf, wie diese Diskussionsverweigerung einer Form von Realitätsverweigerung gleichkommt und daher nichts löst und niemandem hilft. Die Frage steht weiterhin im Raum: Hat Papst Franziskus durch einige Aussagen substantielle Probleme erzeugt: ja oder nein? Manche vermuten, es liege an einer nicht vollständigen Beherrschung der italienischen Sprache. Selbst dann wären Konsequenzen geboten. Eine Vogelstraußhaltung auf diese Frage mag bequem sein, tauge aber nichts, so die These Gnerres.
.
Vom „Denzinger-Katholiken“ zum „moralistischen Katholiken“, einige Etiketten mehr, doch die Probleme bleiben
von Corrado Gnerre
In unserer Zeit wird die Biodiversität gefeiert. Es herrscht die Überzeugung vor, daß Verschiedenartigkeit grundsätzlich schön ist, je mehr, desto besser, je bunter, desto faszinierender … Kurzum, wie man in meiner Gegend zu einer vollbelegten Pizza sagt: je mehr du drauflegst, umso mehr findest du daran!
Auch in der Kirche lebt man in gewisser Weise diese Atmosphäre. Wäre es eine symphonische Atmosphäre, gäbe es nichts daran auszusetzen, denn die Symphonie ist die „Einheit in der Vielfalt“. Vielfalt in der Art und Weise, aber Einheit in der Lehre. Das war immer so in der Kirche. Vielmehr noch ist es gerade ihr Hauptmerkmal. Das ist aber nicht das, was wir heute erleben. Betrügen wir uns nicht selbst: das ist es nicht. Nicht die Symphonie wird heute gefeiert, sondern der Widerspruch, das Anderssein, und das ist etwas ganz anderes.
Wenn Wörter einen Sinn haben, warum interpretiert man sie um?
Seit einigen Tagen mußten wir entdecken, daß es auch „den ideologischen und den moralistischen Katholiken“ gibt. Wenn wir die Worte nach ihrer eigentlichen Bedeutung interpretieren, dann hätte eine solche Entdeckung in Wirklichkeit schon vor langem gemacht werden müssen. Wenn Worte nämlich einen Sinn haben, dann müßte der ideologische Katholik jener sein, der den eigenen Glauben in Ideologie verwandelt, und Ideologie ist wiederum der Anspruch, die Realität in eine intellektuelle und subjektive Konstruktion umzuwandeln. Der Vater der Ideologie ist übrigens der Rationalist René Descartes.
Und wenn Worte wirklich einen Sinn haben, dann müßte der moralistische Katholik jener sein, der die natürliche und übernatürliche Moral in menschliche Ethik verwandelt, oder anders ausgedrückt, jener, der das Gesetz durch Regeln ersetzt. Jene Regeln, die lediglich auf der Schwachheit menschlicher Meinungen und soziokultureller Kontexte gründen.
In diesen Tagen mußten wir also nicht nur die Existenz „des ideologischen und des moralistischen Katholiken“ entdecken, als handle es sich um eine Neuheit. Wir mußten auch entdecken, daß man unter diesen Etiketten etwas ganz anderes zu verstehen hat, als die Worte eigentlich aussagen, ja, daß man in Wirklichkeit darunter den Katholiken zu verstehen hat, der treu an der Tradition festhält (also dem lebendigen und ewigen Gott in der Geschichte und damit etwas ganz anderes als Ideologie) und der treu an der geoffenbarten Moral festhält (also der Nachfolge des lebendigen und ewigen Gottes in der Geschichte und damit etwas ganz anderes als Moralismus).
Die Orientierung ist verlorengegangen, nichts mehr und nichts weniger
Warum aber diese Verwirrung? Aus einem ganz einfachen Grund: weil die Orientierung verlorengegangen ist, nichts mehr und nichts weniger. Durch den Verlust des Bewußtseins für die Wahrheit und vor allem der Tatsache, daß die Wahrheit „informieren“ muß (im Sinne von formen), wird alles, nicht nur die Vielfalt, zum Selbstzweck und entsprechend löst sich auch der Sinn der Wörter auf.
So vernachlässigt man das Problem und konzentriert sich auf Methode und Form. Nehmen wir den Fall Gnocchi und Palmaro. Ich will nicht auf die Frage der Methode eingehen, weil auch ich diesbezüglich vielleicht unklare Vorstellungen haben könnte, nämlich ob Gnocchi und Palmaro gut oder weniger gut getan haben, bestimmte Dinge zu schreiben. Was ich aber ablehne ist, daß sich die stattfindende Diskussion primär darauf beschränkt, ob sie respektlos waren oder nicht, daß sich aber kein Kritiker – und ich wiederhole keiner – wagt, den Nachweis zu erbringen, ob das, was sie geschrieben haben, falsch war.
Der jüngste Beitrag des katholischen Publizisten Antonio Socci vom 24. Oktober in der Tageszeitung Il Foglio hat die Sache nur noch kompliziert. Er hat viel geschrieben, aber letztlich nichts gesagt. Er hat uns informiert, daß Benedikt XVI. ein Meister des Logos war. Gut. Er hat uns informiert, daß Paul VI. viele interessante Dinge über die Treue zur Tradition geschrieben hat. Sehr gut. Er hat uns informiert, daß alle in der Kontinuität stehen. Hoffen wir es. Alles garnierte er damit, daß er eine Reihe von Intellektuellen und gnostischen Modetheologen wie sie Eugenio Scalfari gefallen, an den Ohren zog. Das freut uns. Er hat uns über viele schöne Dinge informiert …, das Problem aber hat er damit nicht gelöst.
Ist die Aussage von Papst Franziskus über das Gewissen mit der kirchlichen Lehre vereinbar? Ja oder Nein
Er hat uns zum Beispiel nicht erklärt, wie die Aussagen von Papst Franziskus über das Gewissen in seinen Gesprächen mit dem Gründer der Tageszeitung La Repubblica in Einklang, ich sage ja nicht einmal gleich mit dem ganzen Denzinger, aber zumindest mit der Enzyklika Veritatis Splendor von Johannes Paul II. zu bringen sind. Apodiktisch verkündete er nur, daß dem so ist, ohne es zu erklären. Und wenn er davon nur überzeugt ist, weil Papst Franziskus ein Sohn des Heiligen Ignatius ist, dann ist das kein so starkes Argument …, wenn es stimmt, und es stimmt, daß auch Kardinal Martini ein Jesuit war. Wenn Socci aber davon überzeugt ist, daß das, was Papst Franziskus sagt, immer in Einklang mit dem Logos ist, weil er der Papst ist, in Einklang mit jenem Logos, der – wie Socci selbst schreibt – sich jeder Reduzierung des Christentums auf Emotionen und Gefühle entzieht, wie es – immer laut Meinung von Socci – die charismatischen Gruppen zu tun pflegen, dann sollte Socci aber sich darüber informieren, welche Meinung Papst Franziskus von den charismatischen Gruppen hat. Seine Heiligkeit hat sie immer gelobt und unterstützt.
„Denzinger-Katholik“ ist nicht beleidigend, aber eine überflüssige Etikettierung
Aber kehren wir zur „Biodiversität“ zurück, die alles in Einklang bringt und alles in der Dialektik und im Kampf harmonisiert, wie den Wolf mit dem Lamm und die Gazelle mit dem Leoparden. Und damit zurück zum Aufsatz von Socci. Den Lefebvrianer (der Autor dieser Zeilen ist weder Lefebvrianer noch sonstwie etikettierbar) als einen Denzinger-Katholiken zu bezeichnen, mag abwertend gemeint sein, ist es aber nicht unbedingt. Lassen wir aber die Frage nach der Eleganz des Ausdruckes beiseite und betrachten wir die Substanz der Aussage. Denzinger-Katholik, das will sagen: ein Katholik, der auf die Gesamtheit des Lehramtes schaut. Das aber ist – und Socci sollte es wissen – für einen Katholiken keine Option, sondern eine Pflicht, weil es nur ein Lehramt gibt und das steht in einer ununterbrochenen Kontinuität. Gemeint ist jene Kontinuität, die auch Socci nach eigenen Worte so wichtig ist, und die er durch Zitate von Joseph Kardinal Ratzinger/Papst Benedikt XVI. zum Ausdruck bringen will. Damit wären wir wieder am üblichen Punkt: Man wirft irgendeine Wendung hin, um jemanden anzugreifen (im konkreten Fall das Duo Gnocchi und Palmaro), ohne aber wirklich etwas zu erklären.
Es gibt Moralisten, aber keine moralistischen Katholiken
Kommen wir also zu einem anderen Punkt. Der moralistische Katholik würde also zu sehr auf der Moral beharren. Haben wir uns aber schon einmal gefragt, was eigentlich die Moral im Bereich der katholischen Theologie ist? Der Gott-Logos ist ein Gott, der nicht über Gut und Böse steht, sondern konstitutiv gut ist. Daher ist das Moralgesetz nicht eine willkürliche Entscheidung Gottes, sondern seine eigene Natur. Die Zehn Gebote zum Beispiel sind nichts anderes als die kodifizierte Natur Gottes. Das Gesetz Gottes beachten, bedeutet daher an Seiner Natur teilhaben, Gott umarmen. Im Umkehrschluß ist es nicht möglich, sich für Gott zu entscheiden, aber sein Gesetz nicht zu beachten. In all dem ist nichts Moralistisches, weil für den Moralismus die Moral etwas Abstraktes und eine intellektuelle Entscheidung ist, die in einer bestimmten Weise ausfällt, aber ebenso gut auch in einer anderen Weise ausfallen könnte. Die Heiligen hingegen haben verstanden, daß es keinen Gott ohne Moralgesetz gibt und kein Moralgesetz ohne Gott, weil Gott ein lebendiger Gott ist. Jene als Moralisten zu bezeichnen, die auf das Moralgesetz achten und andere dazu auffordern, es ebenso zu tun, bedeutet, den Heiligen widersprechen. Was sollte man denn sonst über einen Heiligen Pater Pio von Pietrelcina sagen, der so unnachgiebig beharrte. Jesus ist sehr klar: „Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Kleinste sein. Wer sie aber hält und halten lehrt, der wird groß sein im Himmelreich“ (Mt 5,19).
In diesem Sinn beharrte Benedikt XVI. so nachdrücklich auf die sogenannten nichtverhandelbaren Grundsätze, denn vom Umgang mit dem menschlichen Leben hängt auch ab, wie man mit allen anderen großen Fragen umgeht, die unsere Zeit beherrschen. Benedikt XVI. bezeichnete zum Beispiel die Gender-Ideologie als schwerwiegenden Angriff gegen den Frieden und als große Herausforderung, der sich die Kirche gegenübersieht. Im Umgang mit dem menschlichen Leben drückt sich Zeugnis und Liebe für Jenen aus, der allein Weg, allein Wahrheit und allein Leben ist.
Ein Appell: Wollen wir über Inhalte diskutieren oder nicht?
So richte ich einen Appell: Wollen wir oder wollen wir nicht über Inhalte nachdenken und diskutieren, statt beleidigende Definitionen in den Raum zu stellen und Katholiken zu katalogisieren? Wollen wir die Probleme benennen und lösen oder nicht? Zu sagen, es würde genügen, der eigenen subjektiven Vorstellung von Gut und Böse zu folgen, um sich zu retten; zu sagen, daß man unabhängig vom Glauben an Christus den Glauben nicht verlieren kann; zu sagen, daß Gott nicht katholisch ist; zu sagen, daß es nicht vordringliches Ziel des Christen ist, andere zu bekehren, auf daß auch sie gerettet werden… dieses ganze Gerede, stellt es ein Problem dar oder nicht? Das ist die Frage!
In der Fabel von Pinocchio war es eine einfache Grille, die sprach (um die Entomologie zu erwähnen, da wir mit der Biodiversität begannen), sie wurde zertreten. Sie sprach, aber sie erfüllte ihre Pflicht. Sie warf die richtigen Fragen auf. Pinocchio sagte ihr, sie solle still sein, weil sie nur eine mickrige Grille sei und zertrat sie. Die Probleme löste er damit aber nicht … auch nicht seine Zweifel und die seines „Vaters“.
Einleitung/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons