(Rom) Obwohl Papst Franziskus in seinem Interview mit der Jesuitenzeitschrift „Civiltà Cattolica“ ein gewisses Unbehagen im Zusammenhang mit Interviews äußerte und meinte, daß er sich in den Medienberichten nach der Pressekonferenz auf dem Rückflug von Rio de Janeiro kaum wiedererkannte, scheint er genau das Interview zu seiner bevorzugten Kommunikationsform zu küren. Der Vatikanist Sandro Magister sieht im neuen Drang des Papstes, Interviews zu geben, eine grundlegendere Entscheidung: eine neue Form päpstlicher Enzykliken. Interviews erzielen eine weit größere Reichweite als die klassische Form der Enzyklika und würden, im Gegensatz zu dieser, gelesen. Interviews bergen jedoch Risiken. Eine Gefahr scheint dabei durchaus beabsichtigt: Sie sind weniger verbindlich.
Die Enzykliken haben ein neues Format: das Interview
von Sandro Magister
Es ist die bevorzugte Form von Papst Franziskus zu den Gläubigen und der Welt zu sprechen. Mit allen damit verbundenen Risiken. Pietro De Marco, Professor für Religionssoziologie an der Universität Florenz und der Theologischen Fakultät für Mittelitalien analysierte sehr kritisch die ersten Schritte dieses Gesprächs- „Lehramtes“
Mit dem Vergehen der Tagen erscheinen die beiden Interviews von Papst Franziskus, das eine mit dem Jesuiten Antonio Spadaro, Schriftleiter der Civiltà Cattolica, das andere mit dem bekennenden Atheisten Eugneio Scalfari, Gründer der führenden kirchenfernen Tageszeitung Italiens La Repubblica, immer mehr als Meilensteine des neuen Pontifikats.
In ihnen gab Jorge Mario Bergoglio die Kriterien bekannt, die ihn bewegen. Er sagt darin, wie er den derzeitigen Zustand der Kirche sieht, nennt Prioritäten für sein Handeln und gibt sein Regierungsprogramm bekannt.
Er ist zudem sehr deutlich darauf bedacht, auf Distanz zu seinen beiden Vorgängern Benedikt XVI. und Johannes Paul II. zu gehen.
Die Form des Interviews zu nützen, um mit den Gläubigen und mit der Welt zu sprechen, stellt eine Ausnahme für Päpste dar. Benedikt XVI. nützte sie nur für die Interviewbücher von Peter Seewald. Auch Papst Franziskus schien zunächst daran nichts ändern zu wollen.
Auf dem Flug nach Rio sagte der Papst noch, er gebe keine Interviews – Seit dem Rückflug ist alles anders
Noch am 22. Juli auf dem Flug nach Rio de Janeiro zum Weltjugendtag sagte er noch zu den Journalisten: „Wirklich, ich gebe keine Interviews, warum, das weiß ich nicht, ich kann nicht, es ist so… Für mich ist es ein bißchen anstrengend.“ Entsprechend hatte die Pressestelle des Vatikans bekanntgegeben, daß es keine Pressekonferenz des Papstes geben werde.
Auf dem Rückflug war plötzlich alles anders. Entgegen allen Ankündigungen wurde im Flugzeug eine Pressekonferenz improvisiert, die für viele Schlagzeilen und einige Verwirrung sorgte. Auf sie bezog sich der Papst, als er Pater Spadaro gegenüber meinte, sich in den Medienberichte nicht wiedererkannt zu haben.
Der Papst hatte sich im Flugzeug ohne Vorbereitung und ohne Einschränkungen den Fragen der Journalisten gestellt. Vor allem ein Satz schlug wie eine Bombe ein und brachte dem Papst eine ungeahnte Zustimmung durch die kirchenferne Medienöffentlichkeit ein: „Wenn ein Mensch homosexuell ist und den Herrn sucht und guten Willen hat, wer bin dann ich, ihn zu verurteilen?“
Nichts ist Zufall
Handelte es sich um einen Satz, der ihm in der Improvisation entschlüpft ist? Keineswegs.
Das Civiltà Cattolica-Interview war unter den danach folgenden das am meisten abgewägte. Papst Franziskus wiederholte dort nicht nur die Aussage, sondern legte noch einen Scheit dazu, indem er einen Anhang anfügte, der nicht weniger explosiv ist: „Die geistliche Einmischung in das persönliche Leben ist nicht möglich“.
Das Civiltà Cattolica-Interview ist das Ergebnis mehrerer Gespräche zwischen dem Papst und Pater Spadaro. Es wurde mit großer Sorgfalt niedergeschrieben und Wort für Wort vom Papst überprüft, ehe es in Druck gegeben wurde. Veröffentlicht wurde es am 19. September nicht nur in der Civiltà Cattolica, sondern vom Papst gewünscht, gleichzeitig auch in sechzehn weiteren Jesuitenzeitschriften in elf Sprachen. Das verlangt eine längere Vorarbeit.
Civiltà Cattolica-Interview erste wirkliche „Enzyklika“ von Papst Franziskus
Man darf sie daher als erste wirkliche „Enzyklika“ von Papst Franziskus bezeichnet, weit mehr als Lumen fidei, die ein klassisches Grundgerüst aufweist, das er von Benedikt XVI. geerbt hatte.
Das Interview ist eine ganz neue Form einer „Enzyklika“, die darauf abzielt ihre Verbreitung zu fördern und vor allem, daß sie gelesen wird.
Es ist eine Ausdrucksform der päpstlichen Autorität, gewiß von weniger Autorität als die eigentlichen Akte seines Lehramtes, aber dennoch Teil des päpstliches Munus.
Seither scheint Papst Franziskus die Kommunikationsform des Interviews besonders zu schätzen. Das Interview mit Scalfari ist der Beweis dafür. Indem er sich einer so gefeierten Persönlichkeit des kirchenfernen Denkens und einer Tageszeitung von solcher Breitenwirkung auf die öffentliche Meinung wie La Repubblica anvertraute, erweiterte der Papst seine Reichweite enorm, mehr als ihm je mit dem Interview in der Civilità Cattolica möglich war.
Er setzte diesen Schritt durchaus im Bewußtsein, damit erhebliche Risiken einzugehen. Das Interview mit Scalfari erschien am 1. Oktober in La Repubblica, ohne daß Franziskus vorher den Text lesen und Korrekturen einfordern konnte.
La Repubblica-Interview auf Internetseite des Vatikans wie lehramtliche Aussagen veröffentlicht
Der Osservatore Romano übernahm das Interview vollständig noch am selben Tag. Und die offizielle Internetseite des Heiligen Stuhls, vatican.va veröffentlichte es unter „Neuigkeiten“ in selber Aufmachung wie päpstliche Ansprachen, die Teil seines Lehramtes sind. Beides Zeichen dafür, daß Papst Franziskus das Interview, so wie es veröffentlicht wurde, als getreue Wiedergabe seines Denkens betrachtet.
Inhaltlich unterscheidet sich das Scalfari-Interview nicht von jenem der Civiltà Cattolica: beide berühren die unterschiedlichsten Themen in einer 360-Grad-Drehung. Einige Elemente des Civiltà Cattolica-Interviews werden vom Papst im Repubblica-Interview wiederholt und bekräftigt, einige neue kommen hinzu. Neu ist vor allem die Stelle über die Subjektivität des Gewissens, die am meisten Widerspruch auslöste. Nicht etwa außerhalb, sondern innerhalb der Kirche.
Auch zum Thema Gewissen verhärtete der Papst bereits zuvor gemachte, umstrittene Aussagen: „Jeder von uns hat eine Sicht von Gut und Böse und muß sich entscheiden, dem Guten zu folgen und das Böse zu bekämpfen, so wie er es versteht.“
Im Vorwort zum ersten Band seiner Jesus-Trilogie betonte Joseph Ratzinger-Benedikt XVI., daß sein Buch kein Akt des päpstlichen Lehramtes ist und daher jeder frei sei, ihm zu widersprechen.
Papst Franziskus sagt dies nicht ausdrücklich. Man darf jedoch annehmen, daß diese Freiheit auch ihm gegenüber gilt, wenn er eine Form wie das Interview wählt, die typisch für kontroverse Debatten ist.
Das vollständige Interview von Papst Franziskus mit Scalfari wurde von Sandro Magister im italienischen Original und in englischer, französischer und spanischer Übersetzung veröffentlicht (siehe hier, links oben die Sprache auswählen). Auf Deutsch gibt es bisher nur eine auszugsweise Übersetzung durch die deutsche Redaktion von Radio Vatikan (siehe hier).
Einleitung/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Settimo Cielo