(Washington) Joe Biden ist seit 2009 US-Vizepräsident. Kaum 31 Jahre alt wurde er für die Demokratische Partei in den Senat der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt. Das war im Jahr 1973. Fünfmal im Amt bestätigt, blieb er dort, bis er mit Präsident Barack Obama ins Weiße Haus wechselte. Und Biden ist „mündiger“ Katholik, Abtreibungsbefürworter und Verfechter der Legalisierung einer „Homo-Ehe“.
Am 21. Mai gab das Nationale Komitee der Demokratischen Partei anläßlich des Jewish Heritage Month einen Empfang. Biden trat als Redner auf und dankte den amerikanischen Juden für ihre „entscheidende Rolle beim Kampf für eine bessere Welt“. Der Dank des Vizepräsidenten fiel so überschwenglich aus, daß man ihm fast zum Vorwurf macht, eine „antisemitische“ Rede gehalten zu haben. Ein Paradox?
Laut Biden, wie Corrispondenza Romana berichtet, waren die Juden wenn nicht der wichtigste, so zumindest einer der wichtigsten Faktoren für den kulturellen und sozialen Wandel in den USA. Wörtlich sagte Biden: „Ich wette, daß 85 Prozent dieser Veränderungen, sei es ob es sich um Hollywood oder um die Social Media handelt, eine Konsequenz der jüdischen Führungskräfte in der Industrie sind“. Ebenso meinte der Vizepräsident: „Das jüdische Kulturerbe hat uns geformt, so wie wir sind – uns alle, auch mich – mehr als jeder andere Faktor in den vergangenen 223 Jahren. Das ist eine Tatsache.“
Die Nummer Zwei der USA stellte die zentrale Rolle der Juden für den Durchbruch des Feminismus heraus: „Man kann nicht über die feministische Bewegung sprechen, ohne über Betty Friedan zu sprechen“. Und ihre zentrale Rolle in der Einwanderungspolitik, indem eine große Masse von Einwanderern aus der Dritten Welt in das Land kommen durfte, nannte Biden als „Umarmung der Einwanderung“.
Die amerikanischen Juden, so der US-Vizepräsident, seien auch der entscheidende Motor gewesen, um eine neue „Zivilmoral“ durchzusetzen: „Es war nicht etwas Gesetzgeberisches, das wir gemacht haben. Es war Wille und Gnade, es waren die Social Media. Sie waren es, die wortwörtlich die Haltung des Volkes verändert haben. Das ist der Grund, weshalb ich sicher war, daß die Mehrheit schnell die Homo-Ehe angenommen hat oder annehmen wird.“
Immer laut Joe Biden „hat das jüdische Volk in reichem Maß zu Amerika beigetragen. Keine andere Gruppe hat einen individuell so wichtigen Einfluß gehabt, wie Ihr alle, wichtiger als alle, die vor mir waren und alle die vor Euch waren“. Und weiter: „Ihr stellt 11 Prozent der Kongreßabgeordneten. Ihr stellt ein Drittel der Nobelpreisträger … Ich glaube, daß Ihr, wie immer, den Einfluß des jüdischen Kulturerbes unterschätzt.“ Zum Vergleich: Der Anteil der Juden an den US-Staatsbürgern beträgt knapp zwei Prozent.
Die Rede beendete der Vizepräsident mit dem Hinweis: „Wir stehen in Eurer Schuld und wir stehen in der Schuld Eurer Vorgängergenerationen“.
„Bidens Lob für die jüdische Gemeinschaft der USA war sicher ehrlich empfunden, dennoch kommt spontan die Frage auf: Ist Vizepräsident Joe Biden sicher, den amerikanischen Juden damit einen Dienst erwiesen zu haben?“, fragte sich Dina Nerozzi für Corrispondenza Romana. Es gebe schließlich Verschwörungstheoretiker, die seit langem die These vertreten, daß die amerikanischen Juden in den USA maßgeblichen Einfluß haben und letztlich bestimmen würden, wo es im Land der unbegrenzten Möglichkeit langgeht. Nun war es ausgerechnet der US-Vizepräsident, der ihnen Recht gibt und sie in dieser Meinung bestätigt.
In den USA wird der tatsächliche oder vermeintliche jüdische Einfluß auf Politik, Medien, Kultur und Gesellschaft nicht thematisiert. Jeder weiß darum, aber in der Öffentlichkeit ist es ein Tabu. Um so mehr erstaunt Bidens freimütige Rede in großem Rahmen. Angaben wie jene des israelischen Wirtschaftsmagazin Forbes Israel, das im April schrieb, daß 35 Prozent der US-Milliardäre Juden sind, kann man in den meinungsbildenden US-Medien nicht lesen. Nur innerhalb der jüdischen Gemeinschaft wird darüber gesprochen und das durchaus mit Stolz. Ausnahmen bilden daher jüdische Medien, wie das Online-Portal Jspace, deren Reichweite jedoch auf die jüdische Gemeinschaft beschränkt ist.
Dachte Biden, seine Rede würde unbeachtet bleiben? Dachte er, seine Worte würden den Saal nicht verlassen? Diese Fragen stellte sich auch Jonathan Chait von der New York Times, selbst Jude. Und er kam zum Schluß, daß Bidens Rede noch in Jahrzehnten von antisemitischer Seite zitiert werden wird. Womit er dem Vizepräsidenten im Umkehrschluß unterstellt, wenn auch unbeabsichtigt, eine „antisemitische“ Rede gehalten zu haben.
Tatsache ist, daß Biden sich mit seinem überschwenglichen Lob für amerikanische Verhältnisse weit aus dem Fenster gelehnt hat. Wenn er auch der Meinung ist, daß alle Veränderungen in den USA, die von der jüdischen Elite begünstigt, gefördert, ausgelöst und vorangetrieben wurden „gut“ waren, sind keineswegs alle Amerikaner dieser Meinung. Nicht alle sind überzeugt, daß die Aufhebung der Grenzen und die Globalisierung eine politisch kluge Entwicklung sind und nicht alle sind überzeugt, daß Sonderrechte für Personen, die sich LGBT nennen, etwas Gutes und Richtiges sind. Um nur zwei Stichwörter zu nennen. Auch der Katholik Biden sollte sich dessen bewußt sein, er steht mit einigen seiner Positionen in offenem Widerspruch zur Lehre der katholischen Kirche. Jonathan Chait ist sich dessen jedenfalls bewußt, was ihn zu seiner Schlußfolgerung veranlaßte.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana