Es ist einer göttlichen Fügung zu verdanken – die Welt würde von einem extrem praktischen Zufall sprechen –, daß Alexander Kissler bereits eine ganze Weile an seiner Biografie von Papst Benedikt XVI. gearbeitet hatte, als dieser seinen Rücktritt ankündigte. So kam es, daß der erste Rückblick auf das Pontifikat des Joseph Ratzinger nicht aus der Feder eines mit den üblichen Vorurteilen ausgerüsteten Berufskritikers stammte. Und an Kritik hat es Benedikt XVI. weiß Gott nicht gemangelt. „Insofern sprach er auch von sich, dem Bischof, und hätte auch sich, den späteren Papst, mit einbeziehen können, als er 1978 über Paul VI. nach dessen Tod bilanzierte: Ein Papst, der heute nicht der Kritik verfiele, ‚hätte seine Aufgabe gegenüber diesem Jahrhundert nicht erfüllt.‘“
Statt also seine ganz persönlichen Vorurteile zum Allerbesten zu geben, nimmt Alexander Kissler in „Papst im Widerspruch“ den bayerischen Pontifex beim Wort – und zwar buchstäblich. Der Autor springt von Ansprachen bei Audienzen und Predigten an Hochfesten hin zu Hirtenbriefen des Münchner Erzbischofs und wenig bekannten Artikeln des gelehrten Universitätsprofessors. Man kann nur bewundern, wie Kissler die „Links“ in den Ansprachen des Heiligen Vaters ins rechte Licht rückt und so die feinen Linien nachzieht, welche sich teilweise bis zu den Anfängen des priesterlichen Wirkens Joseph Ratzingers zurückverfolgen lassen.
Erschreckend ist, wie wenig Papst Benedikt XVI. in den Augen der Welt anerkannt wurde – ganz besonders, wenn es sich um deutsche Augen handelte. „Man musste in jenen Tagen, im Sommer des Jahres 2011, den Eindruck gewinnen, ein finsterer Tyrann schicke sich an, handstreichartig die Macht an sich zu reißen und die Bundesrepublik in einen Gottesstaat zu verwandeln. […] Auch die Demoskopen gossen reichlich Wasser in den Wein der päpstlichen Vorfreude auf ein letztes Wiedersehen mit der Heimat.“ Der Heilige Vater ließ sich davon jedoch nicht aus dem Konzept bringen: „Dem Konformismus blieb er ein Feind all die Jahre hindurch.“
In zehn Kapiteln beleuchtet Alexander Kissler die wichtigsten Stationen der demütigen Herrschaft des 264. Nachfolgers des heiligen Petrus. Es geht um die päpstlichen Reisen, wobei den Reisen nach Deutschland und nach Polen – dank Auschwitz – je eigene Kapitel gewidmet sind. Auch die Botschaft der drei Enzykliken des Papstes, den Mißbrauchsskandal, die komplizierte Situation um die Piusbruderschaft und andere Zusammenhänge beschreibt der Autor – immer darauf bedacht, möglichst Benedikt XVI. das Wort zu überlassen.
Das päpstliche Wirken in Wort und Schrift faßt Kissler mit folgenden Worten sehr bezeichnend zusammen: „In der Institutionenmühle Kirche ist es möglich, das Wort schärfen zu wollen und es dann in Dokumenten ausfasern zu lassen über jeden Rand hinaus. […] Benedikt […] selbst – wir hörten davon – nahm gerne an den Heiligen Maß. Diese konnten sich, so sie schriftliche Zeugnisse hinterließen, in der Regel keine Weitschweifigkeit leisten. Gar zu sehr waren sie in die Kämpfe der Zeiten verstrickt, denen sie mitunter tragisch zum Opfer fielen, als dass sie wie das kommode Christentum des heutigen Westens Zeit gehabt hätten für endlose Feinjustierungen, Relativierungen, Abmilderungen.“
Kissler, Alexander
Papst im Widerspruch
Benedikt XVI. und seine Kirche 2005–2013
Text: Martin Bürger
Bild: Verlag