„Mit Jorge Mario Bergoglio alias Franziskus wechselt die Institution ihre Haut. Um sich den neuen Zeiten mit etwas jesuitischem und etwas franziskanischem Geist zu stellen“, so Marco Burini, der einige Überlegungen zum Thema anstellt und dazu für Il Foglio mit dem deutschen Benediktiner Elmar Salmann sprach.
Salmann, der 1972 zum Priester geweiht wurde und 1973 in die Benediktinerabtei St. Jakob zu Gerleve eintrat, lehrte nach seiner Promotion bei Peter Hünermann bis 2012 Philosophie und Systemische Theologie am Päpstlichen Athenaeum Sant’Anselmo des Benediktinerordens und der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom. Im Denken Salmanns geht es vor allem um die Suche nach einem christlichen Lebensstil und einer Denkweise, ohne darauf zu verzichten, Menschen „unserer Zeit“ zu sein. Als Beitrag und Überblick über die aktuelle Debatte dokumentieren wir den Aufsatz Burinis.
Wo ansetzen, um zu verstehen, was dem Papsttum widerfährt?
Man könnte bei den respektlosen Gesten beginnen: das Autogramm auf dem Gips eines Mädchens, der Pileolus für einen Gläubigen, die schon vielen geschwungenen Fußballtrikots. Oder den Geschmackssinn auf die Waagschale legen: Hölderlin und manch vergessenerer französischer Autor [1]gemeint ist Leon Bloy, Guardini und Kasper, Chagall und das neorealistische italienische Kino, Anna Magani und Astor Piazzolla. Oder im Keller wühlen: vielleicht findet sich ja ein Skelett oder auch nur ein Stück Knochen, ein Ausrutscher, ein mißglückter Satz, ein falscher Schritt. Aber das wurde schon alles sehr gründlich erledigt und zwar ziemlich ergebnislos. Die Anekdoten über Jorge Mario Bergoglio alias Franziskus sind bereits über jedes Maß angeschwollen und wir nähern uns dem Sättigungsgrad, auch weil die Flitterwochen mit den Massenmedien noch anhalten. Es ist daher besser, einem anderen Weg zu folgen, sich zu fragen und darüber nachzudenken, was einer konstitutiven Institution der Kirche wie dem Papsttum durch den Wechsel von Benedikt XVI. zu Franziskus, auf jene ungewöhnliche und überraschende Art und Weise wie wir wissen, widerfährt.
Nachnapoleonische Ära geht zu Ende: während Kurie starr ist, verändert sich Papsttum seit Johannes XXIII.
Ich frage es den deutschen Mönch Elmar Salmann, eines der wenigen Talente, die noch imstande sind, gekonnt Theologie, Philosophie, Literatur, Geschichte, Kunst, Psychoanalyse zu mischen. Von seinem Beobachtungsposten aus, der Zelle in der Abtei Gerleve in Westfalen, hatte er mir am Vorabend des Konklave in jenem freundlich distanzierten Ton, der ihn auszeichnet, gesagt, sich „nichts besonderes“ zu erwarten. Jetzt, da die Entscheidung gefallen ist, begleitet er mich am Telefon auf eine Erkundungsreise, die mit einigen historischen Bemerkungen beginnt. „Nun geht eine Phase der Kirche zu Ende, die mit der nachnapoleonischen Zeit begonnen hat. Nach dem feudalistischen Trauma reorganisierte sich der Katholizismus als moderne, wenn auch von einer antimodernen Ideologie getragene Organisation. Eine zentralistische, effiziente Organisation, in der neue Kongregationen, religiöse Institute und Laienorganisationen entstehen und Diözesen und Seminare reorganisiert werden; und in der vor allem das Papsttum innerhalb der Kirche eine zentrale Rolle annimmt bis hin zur Apotheose durch das Dogma der Unfehlbarkeit (in der Konstitution Pastor aeternus des Ersten Vatikanischen Konzils, 1870, Anm. Marco Burini). Das alles erfolgt in einer Gegenbewegung zum Nationalismus jener Zeit. Jetzt aber erschöpft sich diese Phase, sei es weil die zentrale Rolle Europas zu Ende ist, sei es wegen der Vielfalt der Kulturen, die sich nicht leicht zu einer Einheit zusammenführen läßt. In all dem wird die Unfähigkeit der Römischen Kurie sichtbar, auf diese neuen internationalen Dimensionen zu reagieren, während wir eine langsame Veränderung des Papsttums erleben, um genau zu sein bereits seit Johannes XXIII.: Von einer juristischen, sakralen Regierungsinstanz zu einer symbolischen, charismatischen Mediengestalt. Der Rückzug von Papst Benedikt und der dolce stil novo von Papst Franziskus sind die sichtbarsten Verdichtungen dieses Wandels.“
Zwei Päpste, drei Orden, drei unterschiedliche Lebensformen als Ausdruck des Wandels
Ein zweiter, mehr geistlicher Aspekt des gerade stattfindenden Übergangs betrifft die Orden, die von den beiden Päpsten ins Spiel gebracht wurden: Benediktiner, Franziskaner und Jesuiten. „Das sagt viel darüber aus, wie einschneidend die stattfindende Transformation auf menschlicher, geistlicher und mystischer Ebene ist“, bemerkt der Benediktiner Salmann. „Das sind drei unterschiedliche Lebensformen. Daß zunächst ein Papst platonischer Philosophie den Namen Benedikt wählt und dann ein Jesuit den von Franziskus, deutet das Aufkommen einer neuen Sinnkonstellation und eine Verschmelzung der religiösen Ideale an, die mit den verschiedenen Formen jener so sehr von Papst Franziskus verkündeten Armut verbunden sind. Vor allem ist zu sagen, daß das benediktinische Leben, an seinem Ursprung, sich keines großen geistlichen Glanzes erfreute. Es war vielmehr die Art und Weise, einen Ausnahmezustand zum Ausdruck zu bringen als das Römische Reich zerfällt. Tatsächlich beabsichtigte der heilige Benedikt eine Schule für Anfänger des geistlichen Lebens zu gründen, er denkt an eine Werkstatt, in der die Werkzeuge eines ordentlichen Handwerks erlernt werden sollen; er will Zeit und Raum in einer Epoche globaler Wanderungsbewegungen eine Ordnung geben mit der Absicht ein gemeinschaftliches Lebens coram Deo zu ermöglichen. Mit dem heiligen Benedikt haben wir eine nüchterne, spätantike Form des aus dem Nahen Ostens importierten monastischen Ideals. Groß ist auch die Kunst des heiligen Benedikt, unterschiedliche spirituelle Strömungen verschiedener Orden aufzugreifen und zu übernehmen, was seinem Zweck diente – auch das ist ein Akt der Demut. Immer in seiner Zurückhaltung läßt Benedikt vor unseren Augen das Ideal des wahren Mönchs aufblitzen, wenn er es dann auch unter dem Gesichtspunkt seiner Lebbarkeit in eine Form gießt.“
Franz von Assisi, der zweite Archetypus, der die Kirche wiederaufbaut
Der zweite Archetypus ist Franz von Assisi. „Die franziskanische Spiritualität will dem nackten Jesus nachfolgen, vor allem wie er sich in der Krippe und bei seinem Tod zeigt: das sind entscheidende Momente von Gottes Gegenwart. Sich an diese Zustände des Übergangs anpassend erscheinen das gesamte Leben und die gesamte Natur als Symbole dieser Gegenwart. Die Schöpfung erzählt von der Gegenwart des demütigen Gottes“.
In diesem Zusammenhang erinnert Salmann an die berühmte Szene, die Giotto in der Oberkirche von Assisi als Fresko gestaltet hat: „Papst Innozenz hatte einen Alptraum, in dem er die Kirche zusammenbrechen sah und eine prophetische Gestalt, die sie retten konnte. Sicher, er hätte sich nie träumen lassen, daß vor ihm ein Mann in der Kutte der Armen erscheinen würde, und dennoch ist es genau so passiert. Weil es die Nacktheit ist, der Prophet, der eine dem Anschein nach mächtige, innerlich aber in der Krise befindliche Kirche wiederaufbaut.“
Ignatius von Loyola: die großartige Erfindung der Gesellschaft Jesu – ein Jesuit ist in Europa gelandet
Und dann ist da noch der dritte Archetypus des stattfindenen Umbruchs: Ignatius von Loyola und seine großartige Erfindung: die Gesellschaft Jesu. „In einer nicht minder schwierigen Übergangszeit zwischen Renaissance und Reformation, entstanden die Jesuiten aus der Intuition eines pensionierten, hinkenden Ritters, der mit wenigen Gefährten nach Paris geht, um Theologie zu studieren. Dann startete er ein großes Experiment, die Geistlichen Übungen, ein Laboratorium, um den Willen Gottes in den Regungen der Seele zu finden und sie mit den Lebenssituationen Jesu zu vergleichen. So entsteht ein Orden ohne Klausur, ohne gemeinsames Chorgebet, ohne Ordenskleid, mit Männern, die bereit sind, sich an Orte schicken zu lassen, die sie sich nie vorstellen hätten können. Mir fällt der Jesuit am Anfang von Claudels Der seidene Schuh ein, der sich auf einem Schiffswrack befindet, am Hauptmasten angebunden, und bevor er untergeht, seinen Gott anruft. Nun überquert ein anderer Jesuit, ein Lateinamerikaner das Meer, um im Alten Europa zu landen und jenen Weg der Armut, der Nacktheit und der Wehrlosigkeit in einer noch mächtigen, aber inzwischen glanzlosen Kirche wiederaufzunehmen. So als müßten wir der Spur von Franz und Ignatius folgend nach Jerusalem zurückkehren und an die Tür des Neuen Testaments klopfen, um unseren Maßstab und neue Hoffnung zu finden. So, als müßten wir jetzt die Geschichte jener Armut nicht mehr wie ein geistliches Ideal, sondern als konkreten Ausgangspunkt leben, wie die Realität, in der wir leben.“
„Ah, wie sehr wünsche ich mir eine arme Kirche und für die Armen“, sagte Papst Franziskus vor den Journalisten aus der ganzen Welt drei Tag nach seiner Wahl. Und dann beharrte er mehrfach auf den „Peripherien“, auf den Dienst an den Letzten; am Gründonnerstag wusch er den Jugendlichen im Jugendgefängnis von Rom die Füße. Er läßt keine Gelegenheit aus, um über die „Barmherzigkeit“ und die „Sanftmut“ zu sprechen.
Ist Rückzug Benedikts und Wahl Franziskus‘ ein vielversprechender Kà iros?
Laut Salmann kann das die Antwort auf „eine Kirche sein, die die Macht verloren hat, die wehrlos, verwundbar, widerlegt ist und die auf der Suche nach einem anderen Stil ist, um Christus in einer demokratischen, multiperspektivischen und globalen Gesellschaft darzustellen. Die prophetische Geste des Rückzugs in die Einsamkeit von Papst Benedikt und des Mandatsbeginns von Papst Franziskus scheinen mir diese Situation der Kirche anzuzeigen und zum Ausdruck zu bringen, indem sie in einen vielversprechenden Kà iros verwandelt wird. Es ist noch zu früh, um sagen zu können, ob aus dieser Gestik eine politische und verändernde Strategie wird, aber die Tür zu einer solchen Zukunft ist offen, zumindest aufgesperrt.“
Das Paradox, am Ende der Moderne einem Jesuiten die Kirche anzuvertrauen
Inzwischen funktioniert jedenfalls die gelöste und lockere Gestik Bergoglios (er winkt, lächelt, umarmt, zieht die Blicke auf sich) und seine kurze und einprägsame Redeweise journalistischen Zuschnitts. Er fühlt sich sichtlich wohl und gelöst, wo sein Vorgänger unbeholfen und verängstigt wirkte. Das Feeling mit der öffentlichen Meinung war sofort gegeben. Nicht zufällig. Die Jesuiten verstehen es, in der Welt zu stehen. Seinerzeit haben sie das Theater neu erfunden, heute gehören sie zu den wenigen im Katholizismus, die die Medien wirklich kennen und mit Understatement nutzen. Als Meister der ehrlichen Verstellung peilen sie direkt das Ziel an: Todo modo para buscar la voluntad divina. Sicher, es ist ein Paradox, daß die Kirche sich gerade jetzt, da die Moderne zu Ende geht, einem von ihnen anvertraut: Die Jesuiten waren die großen Lehrmeister der Moderne. „In Wirklichkeit befindet sich keiner der drei Orden, Benediktiner, Franziskaner, Jesuiten, heute bei guter Gesundheit, und dennoch verstehen sie es gerade im Augenblick ihrer Abenddämmerung einen schmackhaften Saft hervorzupressen“, so Salmann. „Was Papst Franziskus betrifft, so wird sein Stil sich erst noch bewähren müssen. Man darf die Falle der Vermenschlichung des Rituals nicht vergessen: Nach dem zehnten Mal, daß du Guten Abend sagst, bedeutet es nichts mehr und die Einfachheit der Gesten wird zur Banalität. Ratzinger lief die umgekehrte Gefahr, seine Gestik war hyperstilisiert. Noch früher hatte Wojtyla alles auf sein Charisma als Schauspieler, als großer Histrione gesetzt“.
Jahrhunderte ungesunder universitärer Theologie durch neue theologische Formen ablösen
Ein anderes diesem Papst wichtiges Thema ist die „Bewahrung der Schöpfung“, dem er bei der Messe zum Beginn des Petrusdienstes sehr interessante Überlegungen widmete. „Es ist ein typisch franziskanisches Thema: die ganze Welt erzählt von Gott, Tiere, Pflanzen, Menschen, alles ist Teil des Gartens Gottes und ein zur Freude Geborensein“, so Salmann. Auch die Armut als „geliebte Braut“ ist eine Ikone des franziskanischen Geistes. „Ja, die Armutsfrage ist aber nicht nur ein besonderes Thema von Theologie und Spiritualität, sondern ein wirklicher locus theologicus: ein Lebensstil, eine integrale Perspektive und eine gemeinschaftliche Grundform das christliche Mysterium und dessen fruchtbare Gegenwart in der Welt zu leben und zu denken. Wie die monastische, symbolische und gelehrte Theologie an die Lebensform des Klosters gebunden war und die mystische Theologie an besondere Formen der Erfahrung der göttlichen Gegenwart, so tauchen nach Jahrhunderten der ungesunden Vorherrschaft der universitären Theologie wieder andere Formen theologischer Praxis und Reflexion auf, wie wir sie von Benedikt, Bernhard, Hildegard (die nicht zufällig von Benedikt XVI. vor kurzem zur Kirchenlehrerin ernannt wurde), Franz von Sales, Johannes vom Kreuz kennen; Formen, die heute mehr mit einer Gruppenerfahrung gekoppelt sind, wie es im Grunde bereits die franziskanische Theologie war und jene des frühen Ignatius.“
Übergang des Papsttums von juristischer zu charismatischer Form hat Konsequenzen
Der Übergang des Papsttums von einer vorwiegend juristischen zu einer entschieden charismatischen Form hat Konsequenzen, von denen nicht alle angenehm sind. Salmann macht darauf aufmerksam, daß „man vielleicht beginnt, sich zu sehr für die Persönlichkeit und den Lebenslauf des einzelnen Papstes oder Bischofs zu interessieren. Das ist ein ungesunder Biographismus, der zum Personenkult führt, aber auch leicht zur Verleumdung; vor allem in einer Zeit, die schnell die Ächtung kennt, aber nicht mehr das Verjährungsrecht, das heißt die Nachsicht des Vergessens, des Laufs der Zeiten, die positive Zurkenntnisnahme, daß sich eine Person verändert. Stattdessen wird heute alles entdeckt und bloßgestellt, auch wenn sich die Zeiten, die Umstände und die Person selbst verändert haben. Mehr Zurückhaltung, Größe, ausgewogeneres Beurteilen wären in unserem Urteil über Personen des öffentlichen Lebens wünschenswert.“
Politisch korrekte Gesellschaft kennt nur Kommunikation als letzten religiösen Fetisch – und frißt wie jede Revolution ihre Kinder
Tatsächlich stürzten alle los, um die Vergangenheit zu durchleuchten. Wie aber kann man verstehen, wieviel bei Papst Bergoglio seine Biographie zählt und wieviel hingegen sein jetziges, durch die sogenannte Gnade des Amtes unterstütztes Handeln, wenn man das noch so sagen kann? „Früher sprach man von der Gnade des Standes oder der Heiligkeit der Funktion. Aber heute gibt es den Respekt vor dem Officium, von dem Cicero und Ambrosius sprachen, nicht mehr, im Guten wie im Schlechten. Es ist die Gegenbewegung der charismatischen und biographischen Emphase, die sich auf jede öffentliche Gestalt auswirkt. Das Mehr an Glanz und Würde des Amtes gegenüber der Biographie des einzelnen Amtsinhabers gibt es nicht mehr. Ich habe den Fall der deutschen Bildungsministerin Annette Schavan vor Augen, die vor kurzem zurücktreten mußte, weil sie vor gut 30 Jahren bei der Abfassung ihrer Dissertation etwas irgendwo abgeschrieben hatte. Das ist übertrieben, aber mit dem Internet breitet sich ein Drang zur Verfolgung von ‚Häretikern‘ aus, man durchstöbert alles auf der Suche nach Plagiaten und setzt der Jagd keine Grenzen. Und so verlieren die Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ihre Immunität. Sie sind gegen nichts mehr immun.“ Das Munus, über das Roberto Esposito geistreiche Seiten verfaßt hat, ist tatsächlich Kern und Knoten jeder Institution. „Es ist wahr, das Munus ist ein Problem, das alle Institutionen betrifft, die als solche Respekt für sich einfordern. Und es ist ein grundlegendes Symptom unserer Welt. Sicher, es gibt Schattenseiten, manchmal wird die Immunität mißbraucht, doch die Immunität hatte einen Sinn. Sie grantierte den öffentlichen Vertretern eine gewisse Unversehrtheit. Der psychoanalytische Drang hingegen hat uns zu einem Biographismus geführt, der nichts verzeiht und zu einer ständigen Anschuldigung wird.“ Das Vergessen ist heutzutage Mangelware. „Andererseits leben wir ja in einer politisch korrekten Gesellschaft und die Kommunikation ist der einzige verbliebene religiöse Fetisch. Der allerdings seine Kinder frißt, wie jede Revolution …“, so Salmann.
Bergoglios Gestik ist (noch) Taktik, längerfristig braucht es aber eine weitblickende Strategie
Die Polarität zwischen Charisma und Munus ist entscheidend für die päpstliche Institution. „Bergoglio wird vom charismatischen Gestus unterstützt, der sich jedoch in Habitus und Strategie verwandeln muß. Bisher war seine Taktik eine Taktik des Gefühls, der Sensibilität für die Situation, längerfristig aber braucht es eine Strategie, die weitblickend und ein politischer Prozeß ist.“ Tatsächlich ist der Schachzug Bergoglios ebenso faszinierend wie gefährlich: ein Papst, der sich Franziskus nennt, oder anders ausgedrückt: die Institution, die den Namen des Charismas annimmt. Funken oder Kurzschluß? Dieser Mann, den man „fast vom Ende der Welt“ holte, um seine eigenen Worte zu gebrauchen, ist ein seltsamer Hybride, der die Schritte und Übergänge verkörpert, die das Christentum durchlebt. „Vielleicht hat ihn die ambivalente Erfahrung gezeichnet, die er während der Diktatur in Argentinien durchlebte. Ausweichen, verhandeln, sich der Macht widersetzen ist aufreibend. Es ist fast leichter Märtyrer oder Kollaborateur zu sein, als in diesem Niemandsland, in einer Grauzone zu bleiben. Und ich habe den Eindruck, daß sein Franziskanertum, das heißt sein einfacher Ansatz ohne Überbau gerade entstanden ist, um sein Jesuitsein in diese historischen Bedingungen zu integrieren. Haben Sie das Foto gesehen, das ihn in der U‑Bahn zeigt? Er zeigt eine mehr franziskanische als jesuitische Natürlichkeit“, sagt mein Benediktiner. Bergoglio schaut in die Kamera mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck. Vielleicht schaut er aber gar nicht genau in das Objektiv, das ihn verewigt, sondern ein bißchen höher, und darüber hinaus. Vielleicht auf das, was ihn erwartet. Das, was uns erwartet.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Sant’Anselmo/Il Foglio
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