(Vatikan) In den vergangenen Tagen wurde sehr viel über ein vatikanisches Geheimdossier geschrieben, und noch mehr spekuliert. Es geht um den Abschlußbericht der Untersuchungskommission bestehend aus drei Kardinälen, die Papst Benedikt XVI. eingesetzt hatte, um den als „Vatileaks“ bekanntgewordenen Dokumentenklau-Skandal zu untersuchen, der zur Verhaftung des päpstlichen Kammerdieners Paolo Gabriele geführt hatte.
Als der Heilige Stuhl bekanntgab, daß die Kardinäle vor dem Konklave Einsicht in den Bericht erhalten, dieser aber auch weiterhin nicht veröffentlicht werden wird, hatten die Journalisten in den Redaktionen Hochsaison. Und je unseriöser, desto mehr schossen die Spekulationen ins Kraut bis hin, daß Benedikt XVI. wegen dieses Berichts zurückgetreten sei. In ein Dokument, das auf absehbare Zeit nicht zugänglich gemacht wird, kann jeder hineininterpretieren, was er will. Auch manch katholischer Journalist konnte sich nicht im Zaume halten und meinte die Welle reiten zu müssen, die die Kirche mit Müll überschüttete.
Der Leiter der päpstlichen Untersuchungskommission, Julián Kardinal Herranz, ein Mitglied des Opus Dei, Kirchenrechtsexperte, Arzt und Psychiater nahm bisher nur ein einziges Mal zur Sache Stellung. Er tat dies in einem Interview, das die spanische Tageszeitung El Pais am 19. Februar veröffentlichte. Ein Blick auf dieses Gespräch nützt, um die Dinge jenseits gekünstelter medialer Aufgeregtheiten im richtigen Maßstab zu sehen.
Julián Herranz wurde 1930 in Andalusien geboren. 1955 zum Priester geweiht, ist er seit 1960 an der Römischen Kurie tätig. 1990 ernannte ihn Papst Johannes Paul II. zum Kurienerzbischof und kreierte ihn 2003 zum Kardinal. Er ist emeritierter Vorsitzender des Päpstlichen Rats für die Gesetzestexte und der Disziplinarkommission der Römischen Kurie. Kardinal Herranz wurde von Papst Benedikt XVI. in die Kommission berufen, die das Phänomen Medjugorje untersucht. Obwohl der Abschlußbericht dazu vorliegt, steht eine kirchliche Anerkennung des herzegowinischen „Erscheinungsortes“ noch aus, zu der Papst Benedikt XVI., wie es scheint, nicht bereit war. Der Spanier zelebrierte nach Erlaß des Motu proprio Summorum Pontificum das heilige Meßopfer in der außerordentlichen Form des Römischen Ritus und war Mitglied der Päpstlichen Komission Ecclesia Dei.
[…]
Sie haben die Untersuchungskommission zu Vatileaks geleitet, die am 17. Dezember dem Papst ihren Abschlußbericht übergeben hat. Es wurde viel über den Inhalt dieses Berichts spekuliert, den man sich äußerst schwerwiegend ausmalt, soweit, daß viele der Meinung sind, daß er ausschlaggebend für den Rücktritt des Papstes gewesen sei.
Diese Angelegenheit wurde enorm aufgeblasen. Ich versichere Ihnen in meiner Funktion als Vorsitzender der Untersuchungskommission, daß eine Seifenblase daraus konstruiert wurde, deren Luft bald von alleine raus sein wird. Im Vatikan ist es relativ üblich, Kommissionen dieser Art zu bilden. Sie haben die Aufgabe zu prüfen, wie die Dinge in einem bestimmten Bereich liegen. Man geht hin, spricht mit den Menschen, schaut sich die Dinge an, sieht die Dinge, die gehen und jene die nicht gehen, die Lichter und die Schatten, es werden Notizen gemacht und schließlich werden die Ergebnisse der zuständigen Stelle berichtet. Es kommt dann der zuständigen Autorität zu, die ihr angemessen erscheinenden Entscheidungen zu treffen.
Die Sache hat einen schlechten Eindruck von der Kirche vermittelt.
Aber es ist nur eine Seifenblase, eine Anekdote. Die Bereitschaft Schlangennester sehen zu wollen, mafiöse Gruppen die sich bekämpfen, interne Eifersüchteleien und Haß, das alles ist absolut falsch. Ich arbeite nun schon seit mehr als einem halben Jahrhundert im Vatikan und ich kann sagen, daß ich viele meiner Kollegen bewundere, für ihre Fähigkeit zur Hingabe und zur Aufopferung. Es wird schwarze Schafe geben, wie in allen Familien, das will ich nicht bestreiten, aber wir sprechen von der am wenigsten korrupten und der transparentesten Regierung, die es gibt. Mehr als jede internationale Organisation und jedwede weltliche Regierung. Ich verfolge die Medien aufmerksam, ich bin ein Einsiedler, und ich lese, was in der Welt geschieht und sehe, daß wir von der am wenigsten korrupten Regierung sprechen, die in sehr vielen Aspekten vorbildhaft ist.
[…] In Wirklichkeit hat man eine Seifenblase mysteriöser Dinge geschaffen. Darin steckt viel Phantasie. Es ist klar, daß es keine Regierung, Familie oder organisierte Gruppe gibt, die nicht auch über einen intimen Bereich verfügt, der der Öffentlichkeit entzogen ist. In jedweder Regierung gibt es weit mehr dunkle Zonen von Geheimdiensten und Entscheidungen, die ein Präsident trifft, ohne sie öffentlich zu machen, weit mehr geheime Bereiche als im Vatikan.
Der Fall Vatileaks hat also den Papst nicht wirklich geschrammt?
Nein. Ich versichere ihnen, daß das alles nur eine Anekdote im Vergleich zu den Entscheidungen des Heiligen Vaters und den wirklichen Problemen der Kirche ist. Das grundlegende Problem der Kirche ist die Notwendigkeit einer Neuevangelisierung. Die Kirche erleidet eine schreckliche Verfolgung. 80 Prozent der Menschen weltweit, die im vergangenen Jahr aufgrund ihrer Überzeugungen verfolgt wurden, waren Christen und das sagen andere Institutionen, nicht die Kirche selbst. So ereignet es sich in Indien, in Pakistan, in Afrika. An anderen Orten werden sie diskriminiert, als hätten sie falsche, verwerfliche Meinungen. Und dann gibt es noch eine giftigere Form der Verfolgung.
In den entwickelten Ländern?
Ja, zum Beispiel
In Europa hat die Kirche sicher viel an Macht verloren.
Wer die Kirche als Machtfaktor betrachtet, liegt von vorneherein falsch. Die Botschaft der Kirche wird dort verfolgt, wo es eine absolutistische Haltung gibt. Dort, wo die Religionsfreiheit nicht gewährt wird. Man geht davon aus, daß im vergangenen Jahr rund 100.000 Christen verfolgt, verhaftet oder ermordet wurden. Seit drei Jahren befindet sich eine Familienmutter, Asia Bibi, in Pakistan im Gefängnis und es sind nur wenige weltliche Stellen, die ihre Stimme erheben. Auch diese Dinge lassen leiden. Und der Papst ist sich bewußt, daß der Wellengang des Weltmeeres in starker Bewegung ist und daß das Kirchenschiff einer festen Steuerhand bedarf.
Welche Eigenschaften sollte der Mann haben, der sich als neuer Papst an das Steuer stellt?
Vor allem zwei Dinge. In erster Linie ist es notwendig, daß es ein Mann ist, der Christus liebt. Der den Stifter der Kirche kennt und liebt.
Aber diese Eigenschaft erfüllen alle Kardinäle.
Natürlich, aber nicht auf dieselbe Weise. Alle Kardinäle können sprechen, doch es gilt zu sehen, wer am besten spricht. Es gibt unterschiedliche Grade an Heiligkeit in den Menschen. Es ist nicht einerlei, ob jemand die Berufung zum Mönch hat, wie Cölestin V., oder ob ein anderer in gleichem Maße ein Freund Christi ist, aber sich dessen bewußt ist, was in der Welt geschieht, welche ideologischen und kulturellen Strömungen in der Welt Wellen schlagen.
Und die zweite Eigenschaft?
Daß er imstande ist, seine Liebe zu Gott anderen zu erklären.
Ein guter Kommunikator also.
Genau. Der die Neuevangelisierung voranzutragen, Christus der Welt bekanntzumachen weiß.
Ist das Alter wichtig?
Ja, das sind zwar zweitrangige Dinge, aber von großer Bedeutung. Das Alter, die Gesundheit, Sprachkenntnisse, Reisefähigkeit und vielleicht auch die Nationalität.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: AciPrensa