(Rom/Paris) Den Rücktritt Benedikts XVI., „dem in diesem Augenblick die ganze gerührte Zuneigung gehört“, bezeichnet der bekannte Jurist und Soziologe Massimo Introvigne „technisch gesehen“ als „apokalyptisch“. Introvigne bezieht den dramatischen Ausdruck ausdrücklich nicht auf die zahlreich im Internet kursierenden „falschen Prophezeiungen“, wie etwa jene, die seit der Renaissance dem heiligen irischen Bischof Malachias von Aarmagh (1094–1148) zugeschrieben werden, oder andere, die in regelmäßigen Abständen den Weltuntergang ankündigen. „Etwas, was dem wahren katholischen Verständnis völlig widerspricht“, so Introvigne. Die weitere erste Stellungnahme im Wortlaut:
Das Adjektiv „apokalyptisch“ meint keine zeitliche Vorhersage, was das Weltenende betrifft, sondern einen Hinweis auf eine Zeit größter Schwierigkeiten für die Kirche und die Gesellschaft, in der ein schon mehrere Jahrhunderte währender Prozeß der Entchristlichung sich wie ein finaler Fäulnisprozeß mit einer beispiellosen antireligiösen, antichristlichen und antikatholischen Virulenz „offenbart“.
In seiner berühmten Regensburger Rede vom 12. September 2006 und in seiner Enzyklika Spe Salvi von 2007 – einer großen, für die Deutung der Geschichte entscheidenden Enzyklika, deren geringes Echo unter den Katholiken der Papst mehrfach beklagte – zeigte Benedikt XVI. genau auf, wie wir tatsächlich am Ende eines Prozesses angelangt sind, der uns schrittweise von der Synthese von Glauben und Vernunft entfernt hat, die vom christlichen Europa in vielen Jahrhunderten des Gebets, der Arbeit und des Studiums so mühevoll erreicht worden war. Zuerst warf Martin Luther (1483–1546) gemeinsam mit dem Rationalismus der Renaissance die Vernunft weg, indem der Weg für einen gefährlichen Fideismus geöffnet und die Zerstörung des mittelalterlichen Christentums eingeleitet wurde. Dann trennte die Aufklärung die Vernunft, unter dem Vorwand sie aufwerten zu wollen, radikal vom Glauben, wurde zum Laizismus und endete damit, die Integrität der Vernunft selbst zu kompromittieren, die sie vorgab retten zu wollen. An dritter Stelle stehen die Ideologien des 20. Jahrhunderts, die mit ihrer Kritik am abstrakten Freiheitsbegriff der Aufklärung das Wesen der Freiheit selbst in Frage stellten, indem sie sich in blutige Maschinen der Tyrannei und der Unterdrückung verwandelten. Und schließlich als vierte Etappe der zeitgenössische, von einem aggressiven Relativismus geprägte Nihilismus, der zur „Diktatur“ wird und die Heiligkeit des Lebens und der Familie angreift.
In der Enzyklika Caritas in veritate von 2009 zeigt Benedikt XVI. auf, wie die Diktatur des Relativismus in der Politik zum Angriff auf die nicht-verhandelbaren Werte, allen voran zum Angriff auf das Leben, und zur Technokratie wird. Heute muß man feststellen, so der Papst, „daß die soziale Frage in radikaler Weise zu einer anthropologischen Frage geworden ist“. Und wie er auf seiner Deutschland-Reise 2011 und in seiner historischen Rede vor dem Deutschen Bundestag wiederholte, wird heute nicht nur das göttliche Recht geleugnet, vielmehr behauptet man sogar, es existiere nicht einmal ein Naturrecht.
In vielen Texten, vor allem in den jährlichen Botschaften zum Weltfriedenstag und den Ansprachen an das Diplomatische Corps fügt der Papst hinzu, daß die schwerwiegende Leugnung der Religionsfreiheit auch in Europa und im Westen den besorgniserregenden Hintergrund für diese Leugnungen bildet. In der Rede an die Römische Kurie vom 21. Dezember 2012 zeigt der Papst auf, wie sehr die Krankheit unserer Gesellschaft mit der Gender-Ideologie und der Theorie, daß wir keine menschliche Natur als Mann oder Frau hätten, sondern uns unsere Natur einfach erfinden könnten, in einem wirklichen Endstadium angelangt ist.
„Die tiefe Unwahrheit dieser Theorie und der in ihr liegenden anthropologischen Revolution ist offenkundig. Der Mensch bestreitet, daß er eine von seiner Leibhaftigkeit vorgegebene Natur hat, die für das Wesen Mensch kennzeichnend ist. Er leugnet seine Natur und entscheidet, daß sie ihm nicht vorgegeben ist, sondern daß er selber sie macht. […] Wo die Freiheit des Machens zur Freiheit des Sich-selbst-Machens wird, wird notwendigerweise der Schöpfer selbst geleugnet und damit am Ende auch der Mensch als göttliche Schöpfung, als Ebenbild Gottes im Eigentlichen seines Seins entwürdigt.“
Die Tatsache, daß man nach vielen anderen Revolutionen durch die „anthropologische Revolution“ so weit kommen konnte, Gott zu leugnen und den Menschen zu leugnen, beweist das Endstadium.
„Endstadium“ bezogen auf einen jahrhundertewährenden Prozeß der Angriffe gegen die Kirche und deshalb – noch ohne jeden Bezug auf das Weltenende, von dem es uns nicht gegeben ist, Tag und Stunde zu kennen – „apokalyptisch“. Benedikt XVI., der zu Unrecht für an prophetischen Botschaften wenig interessiert gehalten wird, hat hingegen mehrmals vor allem zwei kommentiert, die ihn bereits bevor er Papst wurde, immer interessiert und inspiriert haben: die Botschaft von Fatima und die Visionen der heiligen Hildegard von Bingen (1098–1179).
Als Pilger in Fatima faßte der Papst 2010 die Botschaft der Gottesmutter von 1917 folgendermaßen zusammen:
„Dem Menschen ist es gelungen, einen Kreislauf des Todes und des Schreckens zu entfesseln, den er nicht mehr zu durchbrechen vermag …“
Im Mittelpunkt der Botschaft von Fatima steht ein Urteil über die Geschichte, und im besonderen der modernen Geschichte. Die in Fatima angekündigten Tragödien sind nicht mit den Ideologien des 20. Jahrhunderts und dem Kommunismus zu Ende, auf die sich die Botschaft von 1917 auch bezieht. Die Krise ist nicht überwunden. In gewisser Hinsicht ist sie heute ernster denn je, weil es vor allem eine Glaubenskrise und daher eine moralische und soziale Krise ist.
Der Glaube drohe in unserer Zeit in weiten Bereichen der Erde wie eine Flamme zu erlöschen, die keine Nahrung mehr erhält, wie der Papst in Portugal sagte:
„Viele unserer Brüder leben, als ob es kein Jenseits gebe, ohne sich um ihr ewiges Heil zu sorgen.“ Selbst im Inneren der Kirche mangelt es nicht an Untreue, Mißverständnissen, Fehlen eines gesunden Realismus. „Oft sorgen wir uns mühevoll um die sozialen, kulturellen und politischen Auswirkungen des Glaubens und nehmen dabei als selbstverständlich an, dass dieser Glaube auch vorhanden ist, was leider immer weniger der Wirklichkeit entspricht. Man hat ein vielleicht zu großes Vertrauen in die kirchlichen Strukturen und Programme gelegt, in die Verteilung der Macht und der Aufgaben; aber was wird geschehen, wenn das Salz schal wird?“ (Lissabon, 11. Mai 2010).
Und selbst der dritte Teil des Geheimnisses von Fatima – die Vision eines Papstes, der durch Kugeln und Pfeile stirbt – wurde von Benedikt XVI. bei seiner Reise 2010 nicht nur auf das Attentat auf den seligen Johannes Paul II. (1920–2005) bezogen, mit dem es Kardinal Ratzinger selbst 2000 in Verbindung brachte, als er es der Welt bekanntgab, sondern auch – Prophezeiungen haben immer mehr als nur eine Bedeutung – auf die Angriffe gegen die Person Benedikt XVI. von außerhalb (die Schüsse, die von weiterer Entfernung abgefeuert werden) der Kirche, wie von ihrem Inneren (die Pfeile).
Auf dem Flug nach Fatima sagte Benedikt XVI. den Journalisten:
„Unter dem Neuen, das wir heute in dieser Botschaft entdecken können, ist auch die Tatsache, daß die Angriffe gegen den Papst und die Kirche nicht nur von außen kommen, sondern die Leiden der Kirche kommen gerade aus dem Inneren der Kirche, von der Sünde, die in der Kirche existiert. Auch das war immer bekannt, aber heute sehen wir es auf wahrhaft erschreckende Weise: Die größte Verfolgung der Kirche kommt nicht von den äußeren Feinden, sondern erwächst aus der Sünde in der Kirche.“
An dieser Stelle ist eine Andeutung auf die Frage der pädophilen Priester notwendig – auf ihre schreckliche Realität und die damit verbundenen instrumentalisierten Angriffe auf den Papst –, die Benedikt XVI. veranlaßte, auch die „apokalyptischen“ Visionen der mittelalterlichen deutschen Nonne Hildegard von Bingen nachzulesen und zu kommentieren, die er 2012 zur Kirchenlehrerin erhob. Auf die pädophilen Priestern und die Krise der Kirche im allgemeinen – die auch eine Krise der Treue gegenüber Papst und Lehramt ist – bezog der Papst eine Vision Hildegards, die er bei der Audienz für die Römische Kurie am 20. Dezember 2010 vollständig vorlas, eine der Audienzen für die Weihnachtsglückwünsche, denen Benedikt XVI. besondere Bedeutung beimaß, indem er jedes Jahr in seiner Rede die zentralen Themen seines Lehramtes der zurückliegenden zwölf Monate zusammenfaßte. Benedikt XVI. sagte den Kardinälen:
„Mir ist dabei eine Vision der heiligen Hildegard von Bingen in den Sinn gekommen, die in erschütternder Weise das beschreibt, was wir in diesem Jahr erfahren haben.“
Lesen auch wir diese Stelle, lesen wir sie gemeinsam mit dem Papst:
„Im Jahre 1170 nach Christi Geburt lag ich lange krank danieder. Da schaute ich, wach an Körper und Geist, eine Frau von solcher Schönheit, daß Menschengeist es nicht zu fassen vermochte. Ihre Gestalt ragte von der Erde bis zum Himmel. Ihr Antlitz leuchtete von höchstem Glanz. Ihr Auge blickte zum Himmel. Bekleidet war sie mit einem strahlendhellen Gewand aus weißer Seide und einem Mantel, besetzt mit kostbaren Steinen. An den Füßen trug sie Schuhe aus Onyx. Aber ihr Antlitz war mit Staub bestreut, ihr Gewand war an der rechten Seite zerrissen. Auch hatte der Mantel seine erlesene Schönheit verloren, und ihre Schuhe waren von oben her beschmutzt. Mit lauter, klagender Stimme schrie sie zum hohen Himmel hinauf: Horch auf, Himmel; mein Antlitz ist besudelt! Trauere, Erde: mein Kleid ist zerrissen! Erzittere, Abgrund: meine Schuhe sind beschmutzt! Und weiter sprach sie: Im Herzen des Vaters war ich verborgen, bis der Menschensohn, in Jungfräulichkeit empfangen und geboren, sein Blut vergoß. Mit diesem Blut, als seiner Mitgift, hat er mich sich vermählt. Die Wundmale meines Bräutigams bleiben frisch und offen, solange die Sündenwunden der Menschen offen sind. Eben dieses Offenbleiben der Wunden Christi ist die Schuld der Priester. Mein Gewand zerreißen sie dadurch, daß sie Übertreter des Gesetzes, des Evangeliums und ihrer Priesterpflicht sind. Meinem Mantel nehmen sie den Glanz, da sie die ihnen auferlegten Vorschriften in allem vernachlässigen. Sie beschmutzen meine Schuhe, da sie die geraden, das heißt die harten und rauhen Wege der Gerechtigkeit nicht einhalten und auch ihren Untergebenen kein gutes Beispiel geben. Dennoch finde ich bei einigen das Leuchten der Wahrheit. Und ich hörte eine Stimme vom Himmel, die sprach: Dieses Bild stellt die Kirche dar.‘“
Die unerwartete und singuläre historische Entscheidung Benedikts XVI. wird in den kommenden Tagen unter den verschiedensten Gesichtspunkten kommentiert werden. Das Urteil, daß die Gegenwart einen wirklich „apokalyptischen“ Charakter hat – ein sehr artikuliertes Urteil über die Geschichte, die auch im Licht der Botschaft von Fatima und der Visionen der Heiligen wie Hildegard zu lesen ist – ist einer der Hintergründe dieser überraschenden Entscheidung.
*Massimo Introvigne, geboren 1955 in Rom, Rechtssoziologe, 1988 Mitbegründer des Studienzentrums CESNUR für neue Religionen, religiöse Bewegungen und Sondergemeinschaften, 2011 Repräsentant der OSZE gegen die Diskriminierung und Verfolgung von Christen, u.a. Mitglied des Redaktionskomitees von Nova Religio (USA), seit 2008 stellvertretender Vorsitzender der Katholischen Allianz Italien, Autor zahlreicher Bücher, darunter: Islam. Die arabischen Revolten – der Tod Osama bin Ladens (2011); Tu es Petrus. Benedikt XVI. gegen die Diktatur des Relativismus (2011); Das wiedergefundene Symbol. Freimaurerei und Geheimgesellschaften (2010); Die Satanisten. Geschichte, Riten und Mythen des Satanismus (2010); Ein Kampf in der Nacht. Plinio Corràªa de Oliveira und die Krise des 20. Jahrhunderts in der Kirche (2008).
Text: Nuova Bussola Quotidiana
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Amici di Papa Ratzinger