(Rom) Kurienerzbischof Augustine Di Noia ist seit Sommer 2012 Vize-Präsident der Päpstlichen Kommission Ecclesia Dei und damit direkter Ansprechpartner für die Beziehungen zwischen dem Heiligen Stuhl und der Piusbruderschaft. Die amerikanische Zeitschrift National Catholic Register veröffentlichte am 1. Juli 2012, kurz nach seiner Ernennung ein ausführliches Interview mit Msgr. Di Noia, das Einblick in dessen Position bietet, weshalb sie in Erinnerung gerufen werden soll. Seine Ernennung sei für ihn eine Überraschung gewesen, so der amerikanische Dominikaner, „aber Ereignisse dieser Art sind das immer“.
Wie der genaue Stand der Gespräche mit der Piusbruderschaft sei, wurde der Erzbischof gefragt. „Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht.“ Msgr. Di Noia betont, viele Aspekte zu den in den Gesprächen behandelten Themen vertiefen zu müssen. „Als ich in das Amt kam“, habe er sich die Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils genauer angeschaut, um die Einsprüche, die von traditionalistischer Seite vorgebracht werden, besser zu verstehen. „Ich las die Bücher über das Konzil von Romano Amerio und Roberto de Mattei“. Zusammen mit dem jahrelangen Studium des Konzils, sei er daher „imstande mit ihnen über ihre Probleme zu sprechen“.
„Sehr wichtig“ sei auch ein „autobiographischer Faktor“, so Msgr. Di Noia. Er habe sein gesamtes Ordensleben, bevor er nach Rom gerufen wurde, in zwei Dominikanerklöstern in den USA verbracht. „An diesen Orten wurde eine Hermeneutik der Kontinuität und der Erneuerung gelebt, wenn man es so nennen will“, aber „nie des Bruchs“. Erst als er begonnen habe, traditionalistische Veröffentlichungen zu lesen, habe er verstanden, daß es „wirkliche Probleme“ gibt. „Wenn man jedoch aufhört zu glauben, daß der Heilige Geist die Kirche vor dem Irrtum bewahrt, verliert man jede Hoffnung.“ Es spiele keine Rolle, welche Interpretation gewählt werde, welche Richtung diese vertritt oder welche Absichten die Autoren der Konzilsdokumente verfolgten: „Konzile können nie zum Irrtum verleitet werden. Alle Dokumente sind begründet. Das Schisma ist nicht die richtige Antwort. Ich verstehe die Positionen der Bruderschaft, aber die Lösung ist nicht, die Kirche zu verlassen.“
Auf die Frage, wie er sich denn erkläre, daß einige Katholiken es vorgezogen haben, einer „eingefrorenen“ Tradition anzuhängen, als in der vollen Einheit zu bleiben, sagte der Kurienerzbischof, daß er die Antwort nicht kenne.
Auf die Frage, warum man Traditionalist ist, meine ich sagen zu können, daß es von den persönlichen Erfahrungen des Einzelnen abhängt. Die Liturgiereform ist ein entscheidender Faktor. Sie stellte eine schreckliche Revolution dar, sie war ein Schock für viele Menschen. Viele fühlten sich verlassen, so als hätte die Kirche sie im Hafen zurückgelassen. Die Beweggründe sind daher sehr kompliziert und variieren je nach Art des Traditionalismus von einer Nation und einer Kultur zur anderen und dem jeweiligen Kontext.
Ein anderes Problem sei es, ein „sehr einfaches Element der Kirchengeschichte“ nicht anzuerkennen: „Nicht alle theologischen Meinungsverschiedenheiten müssen die Kirche spalten.“ Di Noia nennt als Beispiel eine tiefgehende Uneinigkeit zwischen Jesuiten und Dominikanern im 16. Jahrhundert über die Theologie der Gnade [Gnadenstreit]. „Schließlich verbot der Papst ihnen, die jeweils andere Seite als Häretiker zu bezeichnen, was sie getan hatten. Er sagte: ‚Ihr könnt Eure theologischen Meinungen haben´, weigerte sich jedoch, eine lehramtliche Entscheidung zu treffen und zu sagen, daß die Jesuiten oder Dominikaner recht haben. Es handelt sich um ein sehr interessantes Beispiel, weil es zeigt, daß der Katholizismus ausreichend weit ist, eine beachtliche Menge theologischer Verschiedenheit und Diskussionen einzuschließen.“ Die Kirche werde nur in die theologische Debatte eingreifen, wenn sie feststellt, daß man der Häresie verfällt und sich dadurch von der Einheit mit ihr trennt.
Wie wichtig sei Papst Benedikt XVI. die Versöhnung? Der Papst, so Di Noia, hoffe „immer“, daß es zur Versöhnung komme, das sei sein Auftrag. Das Petrusamt bestehe vor allem darin, die Einheit der Kirche zu bewahren. „Wie Sie wissen, war er von Anfang an in diese Angelegenheit eingebunden. Der Papst macht Schritte zurück, um sie aufzunehmen. Er wird aber nicht im Punkt nachgeben, der die Authentizität der Lehren des Zweiten Vatikanums als Akte des Lehramtes betrifft.“
Die Piusbruderschaft vertritt den Standpunkt, das Konzil habe keine unfehlbaren und unveränderlichen Lehren verkündet. Es sei ein pastorales und kein dogmatisches Konzil gewesen. Wenn dem so sein sollte, warum ist es so wichtig, daß sie die Aussagen des Konzils akzeptieren?
Das Konzil enthalte zahlreiche dogmatische Elemente, so die Weiterentwicklung des sakramentalen Charakters der Bischofsweihe. Das Konzil ist sicher in vollem Umfang Teil des ordentlichen Lehramtes, so Di Noia.
Hat man versucht zu klären, was das Konzil von Trient und das Vatikanum I bezüglich der Schrift und der Tradition offengelassen hatte? Da und dort gibt es doktrinale Entwicklungen. Und die Bruderschaft denkt natürlich, daß die gesamte Lehre zur Religionsfreiheit ein Bruch mit der Tradition sei. Aber sehr scharfsinnige Personen haben versucht darzulegen, daß es sich um eine konsequente Weiterentwicklung handelt. Ich habe versucht aufzuzeigen, daß alles, was sie zu tun haben, darin besteht, festzustellen, daß im Konzil nichts enthalten ist, was der Tradition widerspricht und daß jeder umstrittene Text oder Teil von ihm im Kontext des Konzils gelesen werden muß – und im Licht der Tradition. Mir scheint, daß sie trotz ihrer Schwierigkeiten imstande sein sollten, dies zu tun.
Als Teil des ordentliches Lehramtes und mit dessen Gewicht und Bedeutung, sei das Konzil für die Gläubigen bindend. Wenn Papst Benedikt XVI. davor gewarnt habe, das Konzil als „Superdogma“ zu sehen, habe er nicht das darin enthaltende ordentliche Lehramt gemeint. Lediglich die beiden dogmatischen Konstitutionen seien eben als dogmatisch definiert: Dei Verbum und Lumen Gentium.
Welche positiven Auswirkungen erwarten Sie sich von einer Versöhnung zwischen der Piusbruderschaft und dem Heiligen Stuhl?
Die Traditionalisten, die sich in der Kirche befinden, wie zum Beispiel die Petrusbruderschaft, haben erfüllt, worauf der Papst bestanden hat: in der Feierlichkeit der von ihnen für die Zelebration gewählten Liturgie Zeugen der fortdauernden Lebendigkeit der vorkonziliaren liturgischen Tradition zu sein. Das ist die Botschaft von Summorum Pontificum. Sache ist: sie können nicht sagen, daß der Novus Ordo ungültig ist, aber ihre Zelebration nach dem Missale von 1962 ist etwas, das anziehend bleibt und den Glauben nährt, sogar jener, die keine Erfahrung damit haben. Und das ist ein sehr wichtiger Faktor.
Ich habe versucht eine Analogie zu finden, um diese Situation zu beschreiben. Es ist ein bißchen wie mit der Amerikanischen Verfassung, die mindestens auf zwei unterschiedene Weisen gelesen werden kann: die Historiker interessieren sich für ihren historischen Kontext, für die Verfasser, deren Absichten, deren Hintergrund und alles, was historisch mit der Verfassung zu tun hat. Durch das Studium der Verfassung kann aus historischer Sicht viel Licht in ihre Bedeutung gebracht werden. Dennoch, wenn der Oberste Gerichtshof die Verfassung benützt, wenn sie also als lebendiges Dokument gelesen wird, auf das die Institutionen des Staates gegründet sind, ist die Lesart eine ganz andere. Dasselbe gilt, was die Gedanken und Absichten der Verfasser anbelangt, wie auch der Experten, derer sie sich bedient haben. Die Verfasser sind mit den Bischöfen vergleichbar, die Experten mit den Konzilsperiti. Diese Dokumente sind unabhängig von diesen allen. Ich sage oft, daß die Intentionen der Konzilsväter keine Bedeutung haben: Was zählt ist, wie sie heute angewandt werden. Es handelt sich um ein lebendiges Dokument.
Auf die Frage, daß aber gerade die Art, wie das Konzil umgesetzt wurde, ein Problem darstelle, antwortet Di Noia: Es sei sehr wichtig, daß die Theologen und hohen Amtsträger verstünden, daß das Konzil auf sehr destruktive Weise und in Diskontinuität interpretiert wurde.
Ich lese ein 1968 von Louis Bouyer geschriebenes Buch mit dem Titel „The Decomposition of Catholicism“ [Die Zersetzung des Katholizismus]. Und dann gibt es Xavier Rynne, der mit seinen Artikeln in „The New Yorker“ in der westlichen Welt das Verständnis vom Konzil geprägt hat. [Rynnes in Rom als Skandal betrachtetes Buch erschien 1964 in deutscher Sprache unter dem Titel Die zweite Reformation. Die erste Sitzungsperiode des Zweiten Vatikanischen Konzils, Entstehung, Verlauf].
Der Papst hat viele viele Male brillant dagegen geschrieben, aber Sie sehen, zum Teil haben die Traditionalisten zu recht gegen die haarsträubenden Interpretationen des Konzils durch die Progressiven reagiert.
Wenn sie [die Piusbrüder] von der Kirche akzeptiert und in die volle Einheit integriert werden, dann werden sie eine Art lebendes Zeugnis der Kontinuität sein. Sie können sich glücklich schätzen, in der katholischen Kirche zu sein als lebende Zeugen der Tatsache, daß die Kontinuität vor und nach dem Konzil Wirklichkeit ist.
Aber nur, wenn sie die Bedingungen des Vatikans akzeptieren?
Es ist mehr als das. Es handelt sich nicht um ein Edikt: bleibt stehen bei Rot, geht weiter bei Grün, denn der Kirche in voller Einheit anzugehören beinhaltet den Glauben, daß der Heilige Geist die Kirche vor dem Irrtum bewahrt und daß die Einheit mit Petrus ein Teil der Wirklichkeit des Seins in der vollen Gemeinschaft ist. Es ist nicht etwas Zufälliges.
Wenn die Piusbruderschaft also einwilligt, müsse sie dafür alle Voraussetzungen wahrer Katholiken erfüllen und nicht nur mit dem einverstanden sein, was etwa der Papst oder was er, Di Noia, sage.
Sie müssen sagen: ‚Ja, ich glaube, daß die Kirche vom Heiligen Geist vor dem Irrtum bewahrt wird.‘ Dann kann ich sagen: ‚Ja, ihr seid wirklich katholisch‘.
Viele in der Bruderschaft haben auf dem Wort ‚Irrtum‘ beharrt. ‚Irrtum‘ ist in der katholischen Tradition ein sehr vager Ausdruck. Es gibt unterschiedliche Stufen von Irrtum. Dieser Begriff kann ausdrücken wollen, daß jemand ein Häretiker ist oder einfach nur, daß jemand in seinem Urteil voreilig und ungenau ist.“
In welchem Ausmaß spiele das, was von den Traditionalisten als Schwächung des Dogmas extra Ecclesiam nulla salus wahrgenommen wird, eine Rolle?
Ich weiß nicht, ob das Konzil dafür getadelt werden kann oder ob man nicht vielmehr den Finger gegen das Auftreten einer theologischen Richtung richten muß, von der die Heilsmöglichkeit für Nicht-Christen betont wurde. Die Kirche hat das eine immer bekräftigt und das andere nie geleugnet. [Karl] Rahner hat mit seinem ‚anonymen Christentum‘ eine verheerende Wirkung in dieser Frage. Aber das Konzil hat die Lehre der Kirche nicht verändert.
Die Piusbruderschaft aber sage, daß sie es verändert habe.
Das ist ein sehr gutes Beispiel für das, was bereits angesprochen wurde: Die Gefahr das Konzil so zu interpretieren, wie es von Rahner interpretiert wurde, statt im Licht der gesamten Tradition.
Die Traditionalisten beklagen, daß kaum mehr vom Heil und der Heilsnotwendigkeit gesprochen werde.
„Ralph Martin stimmt mit dieser Feststellung überein. Wir befinden uns in einer Krise, weil die Kirche von der Idee infiziert ist, derzufolge wir uns weder zu besorgen noch in Angst geraten brauchen, noch den Auftrag, Christus gewissenhaft zu verkünden, allzu ernst nehmen brauchen. Die Schuld liegt aber nicht beim Zweiten Vatikanum, sondern bei einer schlechten Theologie. Dominus Iesus war eine Teilantwort gegen diesen Zweig der Religionstheologie.“
Catholic National Register befragte Erzbischof Di Noia auch nach eventuellen Reformen des Missale von 1962.
Dabei geht es um zwei Dinge: Im Kalender sind zahlreiche Heilige enthalten, die die Traditionalisten gerne hinzufügen möchten, doch das Missale Romanum ist festgeschrieben. Es wird ein Dialog zwischen ihnen und der Glaubenskongregation notwendig sein über den Modus, in dem Elemente des Römischen Kalenders eingebaut werden können und darüber wie sich dieser in den vergangenen 50 Jahren verändert hat. Dann gibt es noch die Frage der Präfationen. Das alte Missale Romanum von 1962 hat eine begrenzte Zahl von Präfationen, denen die Priesterbruderschaft einige neue hinzufügen möchte. Wir sprechen von Missale von 1962. Wer aber kann die Editio von 1962 ändern?
In der Tat ist der Novus Ordo, das aktuelle Missale Romanum eine Revision des Missale Romanum von 1962. Die Frage ist also: Wie können sie das tun? Ich weiß es nicht, aber diese Arbeit ist zu tun. Wir hatten bereits zwei Treffen der Vertreter der Kongregation mit jenen von Ecclesia Dei um über den Modus zu sprechen, wie dies geschehen könnte.
Nostra Aetate, ein Konzilsdokument, das für viele zu einer Verbesserung der Beziehungen zwischen Juden und Katholiken beigetragen hat, ist für die Piusbruderschaft ein Problem.
Ja, aber bedenken Sie: wenn man eine Konstitution auf korrekte Weise einer Prüfung unterzieht, von Juristen, gibt es zwei modi sie zu interpretieren: in sensu lato und in sensu stricto, die von zwei Anwälten auch in Kontraposition vertreten werden können. Das bedeutet, wenn die Bruderschaft diese Art von Dokumenten im engen Sinn auslegen will, ist sie vom theologischen Standpunkt aus, frei dies zu tun. Das bedeutet aber nicht, daß sie dafür außerhalb der Kirche bleiben müssen. Und sie sollten auf theologischer Grundlage Argumente gegen jene vorbringen. Wenn die Bruderschaft Nostra Aetate für schlecht interpretiert hält, müssen sie in den Ring steigen und kämpfen und den Nachweis für die ihrer Ansicht nach korrekte Interpretation erbringen. Anstatt sich zurückzuziehen, muß sie die Sache austragen.
Di Noia wurde weiters gefragt, ob seiner Einschätzung nach eine Versöhnung innerhalb kurzer Zeit denkbar ist, angesichts der dornigen Probleme in der Kirche und der Gesellschaft.
Ich habe den Eindruck ja. Bedenken Sie: bis zu seiner berühmten Rede vor der Römischen Kurie im Dezember 2005, als Benedikt XVI. von der Hermeneutik der Kontinuität sprach, war das Thema geradezu ein Tabu. Papst Benedikt hat uns endlich davon befreit.
Heute kann man De Lubac, Congar und Chenu kritisieren. Und viele Junge schreiben Doktorarbeiten und Bücher, die zuvor undenkbar waren. Ich würde sogar sagen, daß die vorherrschende progressive Lesart des Konzils heute auf dem Rückzug ist. Und das war sie vorher nie. Aber die Bruderschaft muß sich auch sein Beharren auf der Kontinuität zu eigen machen.
Die Traditionalisten müssen aufhören, das Konzil als Bruch und Diskontinuität zu sehen. Das ist eine Unterscheidung, die [der Historiker Roberto] de Mattei macht. Das Konzil wurde als Bruch wahrgenommen, muß aber doktrinell und theologisch in der Kontinuität gelesen werden – andernfalls könnte man nur das Handtuch werfen.
Denken Sie, daß die Piusbruderschaft befürchtet, daß ihren Forderungen kein Gehör mehr geschenkt werden, wenn sie sich versöhnt?
Wie könnten diese nicht geschützt sein? Wer soll ihnen ihr Handeln diktieren? Das einzige, was ich ihnen sage ist: Das Zweite Vaticanum ist kein Bruch mit der Tradition.
Sind Sie Optimist oder Pessimist was die Versöhnung angeht?
Weder das eine noch das andere, ich weiß es nicht. Ich denke, daß es ein Akt der Gnade sein wird. Deshalb werde ich die Dominikaner bitten, dafür zu beten. Ich hoffe, daß man ans Ziel gelangt. Der Papst wünscht nicht, daß die Dinge so bleiben, wie sie sind – keine weitere Sekte, keine weitere Spaltung.
Interview: National Catholic Register
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Messa in Latino