Eine Analyse des OSZE-Beauftragten gegen die Diskriminierung von Christen und Soziologen Massimo Introvigne zu den Auswirkungen des syrischen Bürgerkriegs auf Hamas, den stillen, aber steilen Aufstieg der Muslimbrüder und deren im Westen weitgehend unbemerkten Aufbau einer islamischen Großmacht vom Atlasgebirge am Atlantischen Ozean bis an die Grenzen der Türkei. Aus dem Beitrag wird sichtbar, weshalb die Christen Palästinas im Hamas-regierten Gazastreifen nur mehr 0,7 Prozent, im Fatah-regierten Westjordanland noch acht Prozent der Bevölkerung ausmachen. 1945 waren 30 Prozent der Bewohner Palästinas Christen.
(Damaskus) Es gibt ein geheimes Opfer der Tragödie, die sich in Syrien abspielt. Hamas, die von Ahmed Yasin (1937–2004) gegründete Bewegung. Seit Hamas 2006 die Wahlen in Palästina gewonnen hat, gelingt es ihr zwei Dinge gleichzeitig zu sein: eine Terrorgruppe, die periodisch Angriffe gegen Israel organisiert, und die faktische Regierung des Gazastreifens, während das Westjordanland, der andere Teil Palästinas sich weiterhin unter der Kontrolle der laizistischen Rivalen der Fatah-Partei von Abu Mazen, dem Vorsitzenden der PLO befindet.
Muslimbrüder regieren Marokko, Tunesien, Ägypten und greifen nach Libyen, Syrien und Palästina
Hamas ist jedoch, wie seine Statuten sagen, noch etwas Drittes: Sie ist der palästinensische Zweig der Muslimbrüder (Moslembruderschaft), der größten internationalen Organisation des islamischen Fundamentalismus, der heute – nach den Wahlsiegen, die durch den sogenannten Arabischen Frühling möglich wurden – mehrere Staaten regiert. Sie muß ihre Macht zwar in unterschiedlichen Kompromissen mit anderen Kräften teilen, ist jedoch die bestimmende Gruppe in Marokko, Tunesien und Ägypten. Die Muslimbrüder sind auch die stärkste Gruppe unter den Kräften, die sich dem Assad-Regime in Syrien widersetzen. Sollte Assad stürzen und es zu Wahlen kommen, wären sie mit größter Wahrscheinlichkeit auch dort die Sieger. Ihre Regierungsmacht würde sich dann vom Atlantischen Ozean bis an die Grenze der Türkei schieben.
Im Augenblick sind die Muslimbrüder Hauptopfer der syrischen Repression und beklagen Dutzende von Toten, die von den Spezialeinheiten Assads getötet wurden. Und genau hier beginnt das Problem von Hamas. Nach der Ermordung Yasins am 22. März 2004 durch eine gezielte Rakete des israelischen Militärs beschloß die Hamas-Führung, ihren Sitz nicht länger in Palästina zu belassen, wo Israel sie, mehr oder weniger jederzeit eliminieren könnte.
Von Damaskus nach Katar? – Hamas auf der Suche nach einem neuen Hauptquartier
Der derzeitige Anführer von Hamas, Chalid Maschal, hat seinen Sitz in Damaskus, wo ihm Syriens Staatspräsident Assad, ein guter Freund, seit Jahren Gastrecht gewährt. Der Arabische Frühling ließ für Maschal eine unmögliche Situation entstehen. Er steht dem palästinensischen Zweig der Muslimbrüder vor, eben Hamas, ißt aber am Tisch von Assad und wird von diesem finanziert, der gleichzeitig die syrischen Muslimbrüder verfolgt. Eine schwierige Situation für Maschal, wenn man bedenkt, daß die Anführer der Muslimbrüder in der gesamten arabischen Welt Assad täglich verfluchen. Zudem befindet sich Maschal, seit Hamas die Macht im Gazastreifen übernommen hat, im Konflikt mit den dortigen Anführern der Bewegung, vor allem mit Ismail Haniyya, dem Ministerpräsidenten der dortigen Hamas-Regierung, die zwar von der internationalen Staatengemeinschaft nicht anerkannt ist, aber das Gebiet kontrolliert. Die Hamas-Führer in Gaza sind es leid, sich von jemanden anführen zu lassen, der im Ausland lebt und die Alltagsprobleme mit der Armut und Überbevölkerung des Gazastreifens nicht kennt.
Sicherheitshalber haben einige Mitarbeiter von Maschal begonnen, Damaskus zu verlassen. Der Militärkommandant von Hamas, Imad al-Alami ist nach Gaza zurückgekehrt, während politische Führungskräfte wie Abu Marzuk und Muhammad Nazzal nach Kairo beziehungsweise Amman übersiedelt sind. In Damaskus befinden sich jedoch nach wie Maschal und das Hauptquartier von Hamas und damit ein großer Apparat. Im Augenblick hat sich nur Katar bereiterklärt, das Hauptquartier aufzunehmen. Eine Verlegung dorthin würde jedoch das Hegemonialstreben des kleinen aber superreichen Emirats am Persischen Golf über die gesamte arabische Welt stärken, das es seit Beginn des Arabischen Frühlings betreibt. Zudem befände sich der Sitz dann etwas weit von Palästina entfernt.
Die Hegemonialbestrebungen Katars über die arabische Welt
Palästina selbst ist zu gefährlich, nicht nur wegen möglicher israelischer Angriffe, sondern auch wegen der Zusammenstöße mit den Anhängern von Abu Mazen. Am 6. Februar 2012 setzte Maschal einen noch nicht dagewesenen Schritt. In Doha in Katar in Anwesenheit des Emirs – womit dieser auf jeden Fall seine Hegemonialstellung unterstrich – unterzeichnete der Hamas-Chef ein Abkommen mit Abu Mazen für eine Regierung der nationalen Einheit, die beide Teile von Palästina, den Gazastreifen und das Westjordanland, unter der Kontrolle einer gemeinsamen Regierung vereint. Regierungschef ist Abu Mazen, während Hamas mehrere Minister stellt. Das Doha-Abkommen sieht zudem einen „Volkskampf“ gegen Israel vor. In der Sprache Palästinas bedeutet das eine feindliche Haltung, meint aber keine bewaffneten Angriffe oder Terroranschläge. Maschal akzeptierte damit in Doha, was Hamas seit 2006 abgelehnt hatte, die Auflösung einer eigenen Regierung für den Gazastreifen zugunsten einer nationalen, einheitlichen palästinensischen Regierung unter der Führung von Abu Mazen und das Ende eigenmächtiger terroristische Angriffe gegen Israel.
Aufstand der Basis gegen Hamas-Chef Maschal
Daraufhin berief die Hamas-Führung im Gazastreifen zwei Versammlungen ein, eine in der sudanesischen Hauptstadt Khartoum und eine in der ägyptischen Hauptstadt Kairo, auf denen sie erklärten, daß Maschal keine Vollmacht hatte, das Abkommen im Namen der Bewegung zu unterschreiben und die Vereinbarung über eine neue palästinensische Regierung ohnehin verfassungswidrig sei. Haniyya begann eine diplomatische Tour de force durch die arabischen Hauptstädte, um zu informieren, daß die von den internationalen Medien verbreitete Nachricht, die diese vom katarischen Nachrichtensender Al-Dschasira und damit von der Regierung von Katar übernommen hatten, mit der das Abkommen als große vom Emir von Katar vermittelte Einigung von Hamas und Fatah präsentiert wurde, in Wirklichkeit lediglich eine Abmachung zwischen Maschal und kleinen Teilen von Hamas und Fatah ist.
Die Mehrheit von Hamas verlangt im Gegenzug für die Anerkennung des Doha-Abkommens, weiterhin die Kontrolle über den Gazastreifen zu behalten und ein Vetorecht bei der Nominierung der Hamas-Minister für die Regierung der nationalen Einheit. Die im Abkommen vorgesehene Reise Abu Mazens in den Gazastreifen ist noch nicht erfolgt, weil die Hamas-Mehrheit die Erlaubnis nur erteilen will, wenn ihre Forderungen erfüllt werden.
Die verachtete Umarmung
Auch Haniyya befindet sich allerdings in Schwierigkeiten mit der internationalen Muslimbruderschaft und mit einem Teil seiner Basis. Da er Finanzmittel brauchte, reiste er in das schiitische Teheran, wo er den iranischen Staatspräsidenten Khamenei vor laufenden Kameras umarmte und küßte. Für einen nicht kleinen Teil der Muslimbrüder sind die Schiiten Häretiker, mit denen man so wenig wie möglich zu tun haben sollte. Im Sommer 2012 stehen bei Hamas Neuwahlen für die Führungsspitze an. Die Wiederwahl von Maschal ist keineswegs sicher. Sie gilt derzeit sogar als höchst unwahrscheinlich. Die verschiedenen Fraktionen scheinen zu mehreren zentralen Punkten zerstritten (welche Form von Kampf gegen Israel geführt werden soll, zu den Beziehungen mit dem Iran, den Dialog mit Fatah und die syrische Frage).
Ende von Hamas könnte Salafiten fördern
Das Zerwürfnis ist tief und könnte zu einer Spaltung und damit zum Ende von Hamas als einheitlicher Bewegung führen. Eine Spaltung muß jedoch weder zwangsläufig Fatah begünstigen noch eine allgemeine Entspannung im Nahen Osten. Viele militante Aktivisten könnten statt zur verhassten laizistischen Fraktion von Abu Mazen, zu einer der zahlreichen salafitischen Gruppen des islamischen Extremismus wechseln, die in den vergangenen Jahren in Palästina aufgetaucht sind und sowohl Hamas als die Muslimbrüder paradoxerweise beschuldigen, zu gemäßigt zu sein.
Text: BQ /Giuseppe Nardi
Bild: Bussola Quotidiana