„Die Lage in Syrien und im Nahen Osten hat sich sehr verschlechtert und könnte jeden Augenblick explodieren. Aber das einzige, das jetzt nicht zu tun ist, ist eine Militärintervention welcher Art auch immer und in welchem Teil der Region auch immer.“ So kommentiert der franziskanische Kustos des Heiligen Landes, Pater Pierbattista Pizzaballa die höchst explosive Lage im Nahen Osten. Pater Pizzaballa ruft zur Hilfe für die Christen Syriens auf, wo die Kustodie in allen wichtigen Städten präsent ist. Die Krankenstationen der Kustodie sind zu Zufluchtsorten für Flüchtlinge geworden. Die Franziskaner helfen ohne Unterschied der Volks- und Religionszugehörigkeit allen Schutzsuchenden, Alawiten, Sunniten und Christen, Rebellen und Regierungsanhängern.
Pater Pizzaballa, die Lage in Syrien verschlechtert sich zusehends. Was geschieht mit den Christen?
Syrien war eigentlich immer ein sehr offenes Land, in dem die verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen verhältnismäßig harmonisch miteinander auskamen. Die Christen hatten immer gute Beziehungen. Nun herrscht große Unsicherheit wegen der aktuellen Lage und wegen der Zukunft. Alle sind von wirtschaftlichen Problemen betroffen. Der Konflikt zwang viele Betriebe zu schließen, der Fremdenverkehrssektor liegt am Boden, die landwirtschaftlichen Betriebe haben große Schwierigkeiten: Das internationale Embargo unterbindet die Ausfuhr von Produkten. Die Preise sind zusammengebrochen. Davon sind vor allem die schwächeren Teile der Gesellschaft betroffen, die unter dem Mangel an Lebensmitteln, Strom- und Wasserzufuhr leiden. In den großen Städten fehlt der Strom mehrere Stunden am Tag. Brenn- und Treibstoff ist rationiert und das mitten im Winter. Die Christen haben aber vor allem Angst vor der unsicheren Zukunft. Sie fürchten, daß Syrien zu einem neuen Irak wird, wo die Christen verfolgt und Ziel von Attentaten, Gewalt und Vertreibung sind.
Stimmt es, daß sich die Christen auf der Flucht befinden?
Die Zahl der Christen sinkt im gesamten Nahen Osten, auch in Syrien. Die Angst hat natürlich diese Bewegung verstärkt. Vor allem die Mittelschicht sucht nach sichereren Zukunftsperspektiven, vor allem die Jungen.
Im Westen tendieren die Medien zur Simplifizierung des syrischen Konflikts: Die diktatorische Repression von Präsident Assad gegen die Demokratie- und Freiheitsbewegung. Liegen die Dinge wirklich so „einfach“?
Nein. Die Situation ist viel komplexer. Bestimmt trägt Assad eine objektive Verantwortung. Sein Regime ist ein Zwangsregime. Das Spektrum der Oppositionsbewegung ist sehr heterogen. Sie reicht von laizistischen bis zu sunnitisch-islamistischen Bewegungen. Es gibt schon auf der einen Seite einen Wunsch nach mehr Freiheit. Es gibt aber andererseits auch einen starken religiösen und sozialen Aspekt. Die Sunniten, die große Mehrheit der Syrer also, sind gegen die Schiiten. Die laizistisch ausgerichtete Regierung Assad wird vorwiegend von Alawiten gebildet, die eine Minderheit in Syrien darstellen und den Schiiten nahestehen.
Dazu kommen internationalen Verwicklungen.
Die Lage in Syrien ist in etwa ein Spiegelbild für die Lage im gesamten Nahen Osten. Alle Nachbarstaaten mischen mit und ebenso die Großmächte. Der Iran, die Hisbollah, Israel, die Arabischen Emirate, Rußland, die Volksrepublik China und die USA mischen alle mit ihren Interessen in Syrien mit. Syrien ist wie eine Kreuzung, an der alle unterschiedlichen Interessen in der gesamten Region aufeinanderstoßen.
Wo sind die Christen in diesem Konflikt zu verorten?
Im laizistischen Regime Assad waren alle Religionen gleichberechtigt. Die Christen genossen in Syrien vollkommene Anerkennung. Das war sehr gut und die Christen waren sich dessen bewußt. Das Problem der Christen war nie die Frage, ob sie für oder gegen Assad sind. Ihr Problem ist vielmehr, was in Zukunft auf sie zukommt. Sie genossen bisher in Syrien auch wirtschaftlich einen relativen sozialen Frieden. Die große Angst der Christen ist, daß Syrien zum zweiten Irak wird und das sicher nicht durch die Christen. Und daß die Christen zur Zielscheibe der Extremisten werden.
In anderen Ländern wie Ägypten und Tunesien führten die Revolten zu Wahlsiegen der Islamisten. Es gibt die Befürchtung, daß es in Syrien auch dazu kommen könnte und daß die Islamisten daher kräftig das Feuer entfachen.
Ich meine nicht, daß die Revolten in den arabischen Ländern von den Moslembrüdern ausgegangen sind. Sie waren vielmehr die Nutznießer eines Anstoßes, den sie sich sofort zu eigen gemacht haben. Angesichts der Lage ist klar, daß die Moslembrüder die Regierung übernehmen, weil es in diesen Staaten keine anderen Formen der Opposition gibt. Das gilt auch für Syrien. Die Frage ist letztlich nur mehr, welche Richtung der Islamisten an die Macht kommt, ob eine etwas gemäßigtere oder eine radikalere Richtung. Daß es aber Islamisten sein werden, das scheint angesichts freier Wahlen unvermeidbar.
Wenn Syrien das Spiegelbild des Nahen Ostens ist, besteht also kein Anlaß zum Optimismus.
Die Lage im Nahen Osten ist insgesamt sehr zerrüttet. Ich kann nur die Hoffnung äußern, daß sie nicht explodiert. Das wäre eine Tragödie. Daß der Nahe Osten explodiert ist jedenfalls möglich, wenn sich die Dinge nicht in relativ kurzer Zeit einigermaßen einrenken.
Welches sind die größten Gefahren, die Sie sehen?
Ich meine, daß auf alle Fälle jede Form von militärischer Intervention von welcher Seite auch immer vermieden werden muß. Das wäre, als würde man ein Zündholz in ein Benzinlager werfen und alles entzünden. Es muß alles getan werden, um politische Lösungen zu finden. Derzeit scheint das allerdings sehr schwierig zu sein, weshalb ich nicht in der Lage bin, irgendeine Vorhersage zu machen.
Denken Sie, daß das Risiko einer internationalen Intervention in Syrien besteht?
Ich kann mir nicht vorstellen, daß irgend ein Staat ernsthaft bereit ist, in Syrien einzugreifen. Es wäre sehr schwierig, sich daraus wieder zurückzuziehen, wie die Erfahrungen im Irak und in Afghanistan lehren.
Und die Spannungen zwischen Israel und dem Iran?
Die Lage scheint immer ganz nahe davor, zu explodieren, doch dann kommt die Aufschaukelungsspirale zum Stillstand. In Israel und zwischen Israel und den USA gibt es sehr unterschiedliche Positionen. Ich hoffe, daß der gesunde Menschenverstand die Oberhand behält.
Und was hält die Kustodie für das Heilige Land für entscheidend?
Da liegen die Dinge recht klar: Hierbleiben, bei den Menschen bleiben, helfen, unterstützen, ermutigen, und nicht zuletzt, es vermeiden, sich in politische Dinge verwickeln zu lassen, sonst kommt man nicht mehr raus. Die Christen haben das Bedürfnis, eine ständige und sichere Präsenz zu spüren, die ihnen nahe ist. Unsere Aufgabe ist es, wo immer es möglich ist, mit großer Gelassenheit und der richtigen Verhältnismäßigkeit zu helfen.
Was wünschen Sie sich von den europäischen Kirchen? Was können die Christen Europas für die Kustodie tun?
Konkrete Unterstützung, wo dies möglich ist. Gebet. Über die Situation im Nahen Osten sprechen, sie bekannt machen. Es ist wichtig, daß auch die internationale Staatengemeinschaft sich der explosiven Lage im Nahen und Mittleren Osten bewußt wird und zwar vor allem auch bewußt wird, daß es dort auch Christen gibt und daß diese Christen seit jeher zu den Ländern dieses Weltteils gehören. Daß die Christen kein junges „Importprodukt“ sind, wie nicht wenige zu meinen scheinen, sondern ein fester Bestandteil der Geschichte und Kultur aller Staaten des Nahen und Mittleren Ostens. Es wird im konkreten Fall Syriens oft über die Sunniten, über die Schiiten, über die Kurden und andere Gruppen gesprochen, aber fast nie über die Christen. Abgesehen von der Unterstützung für die christlichen Brüder und Schwestern in Syrien, ist es dringen notwendig bekannt zu machen, daß es auch die Christen in Syrien gibt.
Das gilt für den gesamten Nahen und Mittleren Osten.
Die christlichen Gemeinschaften sind ein wichtiger Faktor für den Friedensprozeß in der gesamten Region. Die Christen fördern den Dialog zwischen den verschiedenen Konfliktparteien und haben eine internationale Stimme, wenn man sie nützt. Sie verfügen über ein enormes und wichtiges kulturelles und religiöses Erbe der gesamten Region und können einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung aller Länder leisten.
Text: BQ/Giuseppe Nardi
Bild: gesuitieamici