(Ankara) Die türkische Regierung interveniert bei der Wahl der Patriarchen der christlichen Gemeinschaften der griechisch-orthodoxen und der apostolisch-armenischen Kirche genauso wie bei der Wahl des islamischen Obermuftis und des jüdischen Oberrabbiners. Forum 18 erinnert an die systematische Einmischung der Türkei bei der Bestimmung der religiösen Führer. Der türkische Staat verletzt damit die Rechte der religiösen Gruppen und die Religionsfreiheit.
Ankara erkennt nur vier Religionen und Religionsgemeinschaften an: den sunnitischen Islam, das griechisch-orthodoxe und das apostolisch-armenische Christentum und das Judentum. Andere Religionen und Glaubenrichtungen sind rechtlich weder anerkannt noch zugelassen, allerdings faktisch teilweise toleriert. Allerdings besitzen auch die vier anerkannten Gemeinschaften keine bürgerlichen Rechte. Sie dürfen zum Beispiel keinen Besitz haben.
Der Vorsitzende des Diyanet, das Präsidium für Religionsangelegenheiten, das die sunnitischen Moslems leitet, wird direkt von der Regierung bestimmt. Andere islamische Richtungen sind nicht anerkannt. Sie werden lediglich toleriert und können jederzeit verboten werden.
Obwohl weder die Verfassung noch ein Staatsgesetz die Einmischung bei der Wahl eines religiösen Oberhauptes vorsieht, müssen die anerkannten Gemeinschaften dem Innenministerium mehrere Vorschläge unterbreiten. Das Ministerium streicht dann „nicht erwünschte“ Kandidaten aus der Liste. Die offizielle Sprachregelung lautet, daß Personen gestrichen werden, die nicht den „gesetzlichen Voraussetzungen“ entsprächen, obwohl es diesbezüglich überhaupt keine Gesetze gibt.
Bei den nicht anerkannten Religionsgemeinschaften, wie der römisch-katholischen Kirche und der anglikanischen Gemeinschaft gibt es keine solche Einmischung.
Die Intervention des Staates geht soweit, den genauen Titel der religiösen Führer festzulegen. So erkennt die Regierung den wichtigsten Titel des griechisch-orthodoxen Patriarchen Bartholomaios I. nicht an, den des Ökumenischen Patriarchen. Anerkannt wird er lediglich als Fener Rum Patrik, als Patriarch des Fener, dem Sitz des Patriarchen in Istanbul. Damit leugnet die Regierung den rechtlichen Anspruch des Patriarchen über orthodoxe Gemeinschaften in anderen Staaten wie in Ostgriechenland und der Diaspora. Ein türkisches Gericht lehnte im Juni 2007 trotz internationaler Proteste den Titel eines Ökumenischen Patriarchen ab und legte fest, daß er keinerlei rechtliche Zuständigkeit außerhalb der Türkei habe.
Auf die gleiche Weise wird dem armenischen Patriarchen dessen Zuständigkeit für die auslandsarmenischen Gemeinschaften, zum Beispiel auf der griechischen Insel Kreta abgesprochen.
Für die Position des jüdischen Oberrabbiners legte die türkische Regierung nach den Wahlen von 2002 Kriterien fest, die ein Kandidat für dieses Amt mitbringen muß: Er muß türkischer Staatsbürger sein, mindestens 40 Jahre alt, eine bestimmte religiöse Erfahrung haben und von der Regierung akzeptiert sein. Das Amt des Oberrabbiners verfiel im Jahr 2009. Die Regierung stimmte einer Neuwahl erst im Mai 2010 zu.
Die Regierung verlangt weiters, daß auch alle Mitglieder der Leitungsgremien der religiösen Gemeinschaften türkische Staatsbürger sind (das gilt für den Heiligen Synod der Griechisch-Orthodoxen, den Geistlichen Rat des armenischen Patriarchen und den Beth Din der Juden).
Hält sich eine Religionsgemeinschaft nicht an die Regierungsvorgaben, kann es zu harten Auseinandersetzungen kommen. Das mußte die apostolisch-armenische Gemeinschaft erleben, die heute nur mehr rund 60.000 Gläubige zählt. 1998 wählte sie den neuen Patriarchen Mesrop Mutafyan gegen den ausdrücklichen Willen der türkischen Regierung. Patriarch Mesrop wurde seither massivem Druck ausgesetzt, mit dem man ihn zum Rücktritt zwingen wollte. Nun, da er schwerkrank ist und sein Amt nicht mehr ausüben kann, wollten die Armenier am 12. Mai 2010 einen neuen Patriarchen wählen. Die Regierung genehmigte jedoch keine Neuwahl. Erst am 29. Juni wurde der Gemeinschaft vom Innenministerium schriftlich eine Begründung für die Ablehnung mitgeteilt. Die Regierung halte eine Neuwahl solange für illegal, solange der gewählte Patriarch noch am Leben sei. Die Regierung hatte Mesrop nicht als Patriarchen gewollt, der jedoch an seinem Amt festhielt. Nun da er nicht mehr handlungsfähig ist, will ihn die Regierung im Amt behalten, um die Gemeinschaft zu schwächen. Das Innenministerium schlug daher die Ernennung eines „Generalvikars“ vor, ein Amt, das die Gemeinschaft nicht kennt. Um nicht tatsächlich in Handlungsunfähigkeit zu versinken, bestimmte der Geistliche Rat am 1. Juli Erzbischof Aram, der den Titel eines Generalvikars annahm. Ein neuer Patriarch kann bis auf weiteres nicht gewählt werden.
Forum 18 beklagt, daß die vom Staat geforderte Unterordnung der Religionsgemeinschaften bei der Wahl ihrer Oberhäupter eine offene Verletzung des Artikels 18 der türkischen Verfassung darstelle, der allen Bürgern „Gedanken‑, Gewissens- und Religionsfreiheit“ garantiert. Ebenso einen Verstoß gegen Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die Regierung lege zudem völlig unterschiedliche Maßstäbe an, je nachdem wie die außenpolitischen Interessen gerade gelagert seien. Damit werde jedoch die Wahl von Religionsoberhäuptern Kriterien unterworfen, die mit der Religionsgemeinschaft selbst nichts zu tun haben.
(Asianews/GN, Bild: Asianews)