von Michaela Koller
Der südostasiatische Staat Osttimor ist vielen Katholiken in erster Linie als die Heimat des katholischen Bischofs Carlos Ximenes Belo bekannt, der 1996 den Friedensnobelpreis erhielt. Der einstige Apostolische Administrator der Diözese Dili in Osttimor erhielt diese hohe Auszeichnung, weil er die an seinen Landsleuten begangenen Menschenrechtsverletzungen während der indonesischen Besatzungszeit weltweit bekannt machte. Belo und seine Landsleute erlebten 24 Jahre lang brutale Unterdrückung jeglicher Freiheitsbestrebungen durch Polizei und Militär. Und nun, inzwischen fünf Jahre unabhängig, ist Osttimor eine traumatisierte Nation, in der viele Opfer immer noch auf Gerechtigkeit warten. „Die Krise, zu der es dieses Jahr in Dili kam, erinnert uns daran, daß ohne Gerechtigkeit und Versöhnung die Vergangenheit das Volk einer Nation, die aus einem Konflikt hervor gegangen ist, wie im Fall Osttimors, noch lange belastet“, sagte der Forscher Mark Byrne im Hinblick auf die Unruhen, die das Land zuweilen erschüttern.
Rückblende: Nur einige Monate, nachdem Portugal seine Kolonie Portugiesisch-Timor nach der Nelkenrevolution in die Unabhängigkeit entlassen hatte, marschierten am 7. Dezember 1975 indonesische Truppen mit Stillschweigen der USA nach Osttimor ein. Die Amerikaner hatten vor dem Einmarsch dort ein zweites Kuba gefürchtet, da doch Marxisten die Unabhängigkeit der Inselhälfte proklamiert hatten. Erst der Rücktritt des indonesischen Diktators Suharto im Mai 1998 brachte Bewegung in die Situation. Schließlich hatten die Timoresen am 30. August 1999 die Gelegenheit für Unabhängigkeit von Jakarta zu stimmen, wobei sich mehr als 78 Prozent dafür entschieden. Nachdem das Ergebnis bekannt geworden war, erreichte die Gewalt auf der Inselhälfte ihren Höhepunkt: Proindonesische Milizen ermordeten rund 2.000 Menschen, mehr als 200.000 Osttimoresen konnten ihre Haut nur noch durch Flucht in den Westen retten. Die wütenden Milizionäre zerstörten drei Viertel der gesamten Infrastruktur und des Privateigentums, Schulgebäude und Verbindungsstraßen genauso wie Häuser, Hütten und Felder. Hochrangige indonesische Armeeangehörige hatten bei den Verbrechen die Fäden gezogen. Die Gewaltexzesse wurden endlich beendet, als am 20. September 1999 eine internationale Schutztruppe unter australischer Führung entsandt wurde.
Eine fünfköpfige UN-Kommission zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen in Osttimor folgte wenige Tage später, unter ihnen, als Vertreterin Europas, die ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), neben Vertretern aus Peru, Nigeria, Indien und Papua-Neuguinea. „Wir stellten fast verhörähnliche Fragen“, erinnert sich Leutheusser-Schnarrenberger. Sie allein führte mit 200 Osttimoresen Gespräche über deren Schicksal. Die Gruppe habe sich in zwei Teams aufgeteilt und sei durch das ganze Land in die Dörfer gereist, über die zerstörten Straßen mit riesigen Löchern, um das Ausmaß der Gewalt und ihre Hintergründe genau zu ermitteln. Dabei kam heraus, wie sehr deren Leben auch schon vor dem Referendum von Gewalt geprägt war. Die Kommissionsmitglieder dokumentierten ein breites Spektrum von Menschenrechtsverletzungen wie etwa Verschleppen, Verschwinden lassen und Vergewaltigungen. Leutheusser-Schnarrenberger erinnerte sich zudem an Kinder mit „unvorstellbaren Verletzungen“. Die UN-Untersuchungskommission legte im Januar 2000 ihren Abschlußbericht vor und kam darin zu Ergebnissen, die das indonesische Militär schwer belasten. Die indonesische Armee habe die Politik der verbrannten Erde von langer Hand mit vorbereitet, in dem sie etwa im Vorfeld Material und Waffen lieferte. Beweise für ein „systematisches Vorgehen des Militärs“ gebe es „in Hülle und Fülle“. Ausdrücklich empfahl die Kommission deshalb die Einrichtung eines internationalen Tribunals, um die Täter und ihre Hintermänner zur Rechenschaft zu ziehen. Weder Osttimor noch Indonesien könnten einen Gerichtshof für die Vorgänge bewerkstelligen, hieß in dem Abschlußbericht. Ausdrücklich warnten sie davor, eine Situation der Straflosigkeit aufkommen zu lassen.
Den Empfehlungen folgten aber keine entsprechenden Schritte. Um die juristische Aufarbeitung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist es vielmehr sehr schlecht bestellt: Die UNO boykottiert inzwischen die gemeinsame Wahrheits- und Freundschafts-Kommission Osttimors und der einstigen Besatzungsmacht Indonesiens mit der Begründung, sie könne, aus tagespolitischen Gründen, leichtfertig Schwerverbrecher amnestieren. Der Vorwurf ist nicht so einfach von der Hand zu weisen: Im August 2005, sechs Jahre nach der Osttimorkrise, nahm dieses Gremium seine Arbeit auf, um „eine reife Beziehung zwischen Führung und Völkern“ zu begründen, wie es in einer offiziellen Erklärung der vormaligen linksgerichteten Fretilin-Regierung in Dili, der Hauptstadt Osttimors, hieß. Dabei sei man „auf der Suche nach Wahrheit über die gemeinsame Vergangenheit mit vorwärtsgewandtem Geist“. Aufgabe der Kommission, bestehend aus fünf Mitglieder aus Osttimor und fünf aus Indonesien, ist die Ausarbeitung eines „gemeinsamen historischen Berichts“, in dem Menschenrechtsverletzungen vor und nach dem Referendum über die Unabhängigkeit am 30. August 1999 aufgeführt werden. Das Gremium ist nicht ermächtigt, Schuldige zu verfolgen. In einzelnen Fällen, in denen Täter zur Aufklärung von Ereignissen maßgeblich beitragen, darf die Kommission sogar Straffreiheit empfehlen. An Glaubwürdigkeit verlor die Einrichtung besonders, als im Mai 2007 der frühere indonesische Armeechef und einstige Verteidigungsminister General Wiranto vor der Kommission dreist lügen, jegliche Verantwortung bestreiten und die Gewalt als innenpolitische Angelegenheit Osttimors abtun konnte.
Der Kurs der vor kurzem abgewählten Fretilin-Regierung gegenüber Jakarta war vielen Osttimoresen zu realpolitisch. Bereits ein halbes Jahr nach der Unabhängigkeit Osttimors im Mai 2002, hatte Dili volle diplomatische Beziehungen zur Ex-Besatzungsmacht Indonesien aufgenommen und schon polizeiliche Maßnahmen gegen Schmuggel, Drogenhandel und Terrorismus mit Jakarta abgestimmt. Es besteht kaum Hoffnung, daß in punkto Aufarbeitung der Vergangenheit die neue Regierung unter Ministerpräsidenten Kay Rala Xanana Gusmà£o den Kurs wechselt. Dabei ist soviel Versöhnung und Zusammenarbeit mit den Tätern von gestern eigentlich erstaunlich. Der Ministerpräsident war selbst einmal Freiheitskämpfer, sogar ihr Anführer, und hatte indonesische Polizeimaßnahmen am eigenen Leib erfahren, saß er doch sieben Jahre in einem Hochsicherheitsgefängnis in Jakarta, nachdem er siebzehn Jahre als Guerillo gekämpft hatte. Die erstaunliche Versöhnungsbereitschaft Gusmà£os ruft in Osttimor lautstarken Unmut hervor. Zuweilen versammeln sich ehemalige Freiheitskämpfer in der Hauptstadt Dili zu lautstarken Kundgebungen, bei denen sie wiederholt „Gerechtigkeit, Gerechtigkeit“ skandieren, Schreie, die man im Präsidentenpalast nicht zur Kenntnis nimmt. Die katholische Kirche Osttimors fängt diese Stimmung hingegen auf: Der Nachfolger des Friedensnobelpreisträgers Bischof Belo auf dem Bischofsstuhl von Dili, Bischof Alberto da Silva, warnte bereits vor zwei Jahren: „Was auch immer Kofi Annan sagt oder nicht sagt, oder was auch immer die timoresische Führung möchte oder nicht möchte, die Haltung der Kirche bleibt gleich klar und fest. Wir brauchen Gerechtigkeit, Gerechtigkeit muß geschehen.“ Das ganze Volk verlange nach Prozessen wegen der Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
In der Tat kamen die Hauptverantwortlichen für die Politik der verbrannten Erde vom September 1999 bisher ungeschoren davon: Drei Jahre nach den Massakern begann überhaupt erst eine Aufarbeitung der schwersten Verbrechen seitens der indonesischen Justiz. Jakarta hatte ein Ad-hoc-Menschenrechtsgericht installiert und hoffte so, die Verfechter eines internationalen Tribunals zum Schweigen zu bringen. Das Ergebnis war aber wenig dazu geeignet, die Forderungen nach Gerechtigkeit verhallen zu lassen, wurden doch von 18 Angeklagten 17 letztlich freigesprochen, trotz des Vorwurfs Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben. Der Gerichtshof urteilte entweder milde oder so, daß die Begründung einer Revision vor dem Obersten Gericht nicht standhielt. Der einzige, der für zehn Jahre hinter Gittern landete, ist Osttimorese: Milizenführer Eurico Guterres. Möglichweise liegt das Desinteresse der politische Klasse in Osttimor in der Angst begründet, die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem großen Nachbarn zu gefährden. Offiziell heißt es, die Verfolgung der Verbrechen von Armeeangehörigen könne zu einer Destabilisierung Indonesiens führen, da das Militär immer noch eine große politische Rolle spiele.
Die Uno hatte beim Generalstaatsanwalt in Osttimor die sogenannte Serious Crimes Unit (SCU) eingerichtet, die für die Ahndung schwerer Verbrechen zuständig ist. Ihr Auftrag lief jedoch schon im Mai 2005 aus, als deren Arbeit noch lange nicht beendet war. So konnte erst in weniger als die Hälfte der Mordfälle von 1999 die Ermittlungen abgeschlossen werden. Von 369 Verantwortlichen, die diese Abteilung anklagte, wurden aber nur 50 verurteilt. Die Osttimoresen gewannen bald den Eindruck, daß die Ermittler nur gegen kleinere und mittlere Fische vorgingen. Tatsache ist, daß Milizionäre, die sich schwerer Verbrechen schuldig gemacht haben, nach Westtimor abgesetzt haben und Indonesien die Hintermänner, zum Teil hochrangige Militärs, erst recht nicht ausliefert.
Anfang 2002 wurde die Wahrheits- und Versöhnungskommission (Comissà£o de Acolhimento, Verdade e Reconciliaçà£o em Timor-Leste, kurz CAVR) eingerichtet, die mit der eingangs erwähnten, ähnlich lautenden Einrichtung aber nichts zu tun hatte. Die CAVR kann sich in über 1.400 Fällen der Aussöhnung zwischen Freiheitskämpfern und ihren Sympathisanten sowie einst pro-indonesischen Landsleuten rühmen. Sie brachte Täter dazu, öffentlich über ihre Verbrechen und ihre Motive zu sprechen und gab ihnen so die Gelegenheit, sich bei den Opfern zu entschuldigen und sie entschädigen. Auf diese Weise konnten sie überhaupt erst wieder in die Gemeinde eingegliedert werden. Jedoch war die Kommission weder für Verbrechen gegen die Menschlichkeit noch für die einstigen indonesischen Besatzer zuständig. Sie behandelte vielmehr sogenannte minderschwere Verbrechen, wie Plünderung, Diebstahl, einfache Körperverletzung und Brandstiftung. Die Mitarbeiter trugen dazu mehr als 7.500 Aussagen von Opfern zusammen, die teilweise zum ersten Mal über die Ereignisse sprechen konnten. Im Oktober 2005 konnte die Einrichtung ein 2.500-Seitenstarkes Konvolut als Abschlußbericht dem damaligen Präsidenten Xanana Gusmà£o vorlegen. Dieser lehnte eine sofortige Veröffentlichung ab. Politische Beobachter vermuten, daß dies aus taktischen Gründen geschah. Während die einen gegen die Kultur der Straflosigkeit mit lauten Parolen auf die Straße gehen, verlassen andere lieber leise das Land: Bischof Belo verließ bereits Ende 2002 seine Heimat und arbeitet seit geraumer Zeit nun als Seelsorger in Mozambique. Beobachter vermuten, daß ihn nicht zuletzt das Fehlen der Gerechtigkeit für die Opfer seiner Heimat in die Ferne trieb.
Michaela Koller arbeitet als freie Journalistin und berichtete bereits mehrfach aus Osttimor. Sie ist Mitbegründerin des Osttimorforums e.V. in München.